Die Menschen haben vielleicht nie eine wichtigere Äußerung vernommen als die Erklärung der Mary Baker Eddy, daß die Materie Mythologie sei (vgl. „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”, S. 591). Als klarer Widerhall der Worte Jesu: „Das Fleisch ist nichts nütze” gehört diese Erklärung zu den Lehren des Christentums. Im 2. Briefe an Timotheus wird dem Christen eingeschärft, sich zu befleißigen, „das Wort der Wahrheit” recht zu teilen oder die Scheidelinie zwischen dem Wirklichen und dem Sagenhaften klar zu erkennen. Wenn der Christliche Wissenschafter den dem Timotheus erteilten Rat des Paulus beachtet und sich im Lichte der Schriften der Mrs. Eddy in die Heilige Schrift vertieft, wird ihm die Unendlichkeit des Geistes und die daraus folgende Unwirklichkeit der Materie, des Gegenteils des Geistes, offenbar.
Es ist Aufgabe der Religion, den Menschen die Wahrheit über Gott und Sein Weltall zu übermitteln. Leider wurden Sagen ganz besonders mit religiösen Annahmen verknüpft, und die Mythologie (Sagenkunde, Götterlehre) wurde als Teil der Urreligionen angesehen. Webster erklärt Mythe u. a. als „eine eingebildete oder nicht nachweisbare Person oder Sache”. Ein solches Unding kann in Gottes Wirklichkeit keinen Raum haben. Daher darf die Religion nicht mehr die Fabel lehren, daß die Materie wahre Substanz sei. Diese Fabel ist in verschiedenen Formen über die ganze Erde verbreitet; aber das tatsächliche Bestehen der Materie ist nicht nachweisbar. Sogar Naturwissenschafter geben jetzt ihre trügerische Art zu. Ein sehr bekannter Professor der Sternkunde schreibt über die materielle Welt: „... sonderbares Gemisch von äußerer Natur, mentaler Vorstellung und ererbter Voreingenommenheit, das ich mit den Augen sehen und mit den Händen betasten kann. ... So ist also die körperliche Außenwelt eine Schattenwelt geworden”.
Die Christliche Wissenschaft geht weiter und erklärt, daß die Materie nur die Voraussetzung des sagenhaften sterblichen Gemüts ist. Die Materie kann im Reiche der sterblichen Annahme nur scheinbar vorhanden sein, da Gott sie nie kannte und sie nicht schuf. Da die Materie ihren Ursprung nicht in Gott hat, hat sie keine Spur von Wirklichkeit. Jede Erscheinung der Materie ist daher nur eine Form von Mythologie, deren Wesen und Geschichte durchaus unwirklich ist.
Wer sich mit der römischen Götterlehre befaßt, erfährt von einer Göttin Diana, der Göttin der Keuschheit und der Jagd, der Tochter Jupiters und der Latona. Er liest von ihrer Schönheit und Anmut, ihrem Gefolge, das sie begleitet, wenn sie auf die Erde kommt. Er geht in Bildergalerien, wo viele Besucher vor Gemälden der Diana stehen und ihre Schönheit bewundern. Er betrachtet ihr Standbild und berührt die vom Bildhauer in anmutigen Linien gemeißelte Marmorgestalt. Dichter haben sie gepriesen, ihre Eigenart und ihr Leben beschrieben, und der Schüler vertieft sich in die hierüber vorhandene Literatur, wohl gar um eine Prüfung darin zu bestehen. Und doch hat es nie eine Diana gegeben,— sie ist nur eine Sagengestalt, die nie das ihr zugeschriebene Wesen und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften hatte. Sie hat nie gelebt, sie wurde nie geboren, und ihre angeblichen Eltern sind Sagengestalten. Der Marmor war kein Abbild ihres Körpers, da sie nie einen hatte. Alles, was der Schüler über sie lernte, war erdichtete Vorstellung; denn Diana ist weiter nichts als eine Sammlung von Annahmen.
Auf Seite 478 in Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy: „Von Anfang bis zu Ende ist alles Sterbliche aus materiellen, menschlichen Annahmen zusammengesetzt, und aus nichts anderem”. In jeder Form, sei es ein Ur-Teilchen oder ein Sterblicher, gehört die Materie in das Reich der Sage. Der sterbliche Sinn, selber sagenhaft, kann wohl anscheinend ein Bild eines körperlichen Gegenstandes auf die Netzhaut des Auges malen oder die kennzeichnenden Eigenschaften des Gegenstandes schriftlich niederlegen; aber dieser bleibt trotzdem eine Trugvorstellung.
Richten wir zur genauen Zergliederung die Linse der göttlichen Wissenschaft einen Augenblick auf jene besondere Form der Materialität, die Kränklichkeit genannt wird, so sehen wir, daß sie aus der Nichtsheit der Materie oder des sterblichen Gemüts gebildet ist — die ein und dasselbe sind; daher ist sie offenbar eine Unwahrheit. David sagt im 103. Psalm über den sterblichen Menschen: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr”.
Ebenso zergliedert erweist sich auch ein Sünder als Sagengestalt, als der verbildlichte Glaube des sterblichen Gemüts an die vermeintliche Abwesenheit des Guten. Der große Meister bewies dies, als eine Sünderin zu ihm in den Tempel gebracht wurde. Alle Anwesenden — außer Jesus—, sogar das Weib selber, glaubten, ein Sünder sei eine Wirklichkeit. Jesus wußte, daß die Sünde und der Sünder nicht zum wahren Sein gehören sondern eine falsche Vorstellung des sterblichen Sinnes sind. Sein zum Einssein mit Gott erhobenes Denken, sein beharrliches Sichbewußtsein, daß der Mensch in Wirklichkeit jetzt der Sprößling des Guten ist, hatte zur Folge, daß die sündige Annahme ausgetrieben und die vormalige Sünderin befreit wurde. Das Zutagetreten der Heiligkeit vertrieb die Lüge. Diese Umwandlung hätte nicht stattfinden können, wenn die menschliche Auffassung von einem Sünder auch nur eine Spur von Wirklichkeit gehabt hätte. Nur Sagenhaftes vergeht. Wirklichkeiten bleiben.
Denkt man an die Heilarbeit des Meisters, so beweisen seine Erlebnisse fraglos die trügerische Art der Materialität. Die Bilder der verdorrten Hand, der aussätzigen Haut, der lahmen Beine, des Toten und des Sturmes verschwanden alle, und wo sie scheinbar gewesen waren, traten die Beweise der Gesundheit und der Harmonie in Erscheinung. Jesu göttliches Wissen deckte in jedem Falle die Täuschung des materiellen Sinnes auf, befreite das irregeführte menschliche Bewußtsein und offenbarte die Tatsachen des Seins.
Alles, was Täuschung ist, muß in sein ursprüngliches Nichts verschwinden, wenn die Wahrheit erscheint. So muß die Materie in allen ihren Formen durch geistige Erleuchtung für immer aus dem menschlichen Denken verschwinden. Das heißt aber nicht, daß eine einzige Identität der Schöpfung Gottes verloren geht. Es wird vielmehr ein Zustand bestrickender Unwissenheit beseitigt, der dem Blick die herrlichen Offenbarwerdungen geistiger Substanz zu verbergen schien. In dem durchdringenden Lichte der Entdeckung der Mrs. Eddy können die Menschen schließlich statt über sterbliche Mythologie nachzudenken sich in die göttliche Wissenschaft vertiefen und die substantiellen Schöpfungen des göttlichen Gemüts in ihrer unveränderlichen Vollkommenheit sehen lernen.
Welchen Trost diese gute Nachricht dem bringt, der bestrebt ist, die Leiden des Sinnes zu überwinden, um an den Segnungen der Seele teilzunehmen! Wie klar der Weg wird, wenn man erkennt, daß man anstatt mit materiellen Dingen, Zuständen, Gesetzen und Kräften zu ringen sich nur immer mehr über die Mythologie der Materie klar zu werden braucht! Denn dies macht der Furcht vor der Materie und dem Glauben daran ein Ende, und dadurch wird für uns der Sünde, der Krankheit und der Begrenzung die vermeintliche Grundlage entzogen.
Lieber Leser, lastet auf dir das Bild eines materiellen Selbst, das der sterbliche Sinn dir ausgemalt und mit deinem Namen versehen hat? Enthält dieses Bild Entstellung, schlechte Gewohnheiten, angeborene Sinnlichkeit, Krankheit? Ringt es mit Heftigkeit und Furcht? Ist es arm und ohne Freunde? Hat es große Lasten materiellen Besitzes angehäuft, die es niederdrücken? Ist ihm schwere Verantwortung auferlegt, und ist es des Kampfes ums sterbliche Dasein müde? Sehnst du dich, von seinen Begrenzungen befreit zu werden? Da es dem Wesen und der Art nach sterblich ist, ist es nicht dein wahres geistiges Selbst, deine gottgeschaffene Identität. Es ist nur eine Sagengestalt, die zu deinem wirklichen Sein in keiner Beziehung steht. Die Geschichte seiner Geburt und seines Wachstums ist sagenhaft. Es kann dir weder helfen noch dich hindern; denn es besteht nicht im Reiche des Wirklichen, im Reiche des Geistes.
Du glaubst vielleicht, du habest das Bild seines Gesichtes im Spiegel gesehen, du habest seinen Körper auf einer Waage gewogen, du habest gefühlt, daß er fiebere, du kennest seine Freuden und Schmerzen. Aber alle diese Eindrücke beweisen die Wirklichkeit eines Sterblichen so wenig, wie die Diana durch das Gemälde und das Standbild in der Kunstgalerie zu einem lebendigen Geschöpf wird. Der Sterbliche als das vermeintliche Kind Gottes ist wie die Diana als vermeintliche Göttin eine Trugvorstellung. In der Wissenschaft der Schöpfung gibt es keinen Sterblichen.
Alle Ideen des Geistes, des göttlichen Gemüts, haben an dem ewigen Wesen teil. Danach ist der Mensch unkörperlich und vollkommen, der Sohn Gottes, der Sprößling der göttlichen Liebe. So beginnen die Sagengestalten, die Dinge des Sinnes, in Vergessenheit zu geraten, und die Ideen der Wahrheit entfalten sich uns als greifbare Wirklichkeiten. Mrs. Eddy hat unter göttlicher Eingebung geschrieben (Miscellaneous Writings, S. 363): „Unvollkommenheit kann Gott nicht zur Last gelegt werden. Seine Verfahren offenbaren die Schönheit der Heiligkeit, und Seine mannigfaltige Weisheit leuchtet mit Strahlen der ewigen Wahrheiten durch die sichtbare Welt. Sogar durch den Nebel der Sterblichkeit hindurch sieht man die Herrlichkeit Seines Kommens”.
