Was verstehen wir unter „Mutterliebe”? Und warum schätzen die Menschen sie so hoch? Hat es nicht seinen Grund darin, daß Mutterliebe Selbstlosigkeit, Dienstbereitschaft, Reinheit, Beständigkeit, Verzeihlichkeit und Langmut, ja, alle Einzelheiten der wunderbaren Eigenschaft bekundet, die Paulus im 13. Kapitel seines ersten Briefs an die Korinther beschreibt?
Die Liebe einer Mutter ist selbstlos, weil sie nie des Dienens müde wird. Nichts ist ihr zu viele Mühe, wenn sie auch nichts dafür empfängt. Sie will nur geben, und kümmert sich wenig darum, was sie erhält. Ihre größte Freude ist, ihre Lieben frei und glücklich zu sehen. Wer hat nicht schon das Gesicht einer viel beschäftigten Mutter aufleuchten sehen, wenn sie ihrem Kinde beim Spiel zusieht oder mit liebevoller Anteilnahme anhört, was es ihr erzählen will? Und wer heißt es mit offenen Armen tröstend willkommen, wenn es Trost braucht? Der Prophet Jesaja muß diese Eigenschaft erkannt haben, als Gott durch seinen Mund verkündigte: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet”.
Ist ein Kind ungehorsam gewesen, so wendet sich die Mutterliebe nicht von ihm ab. Vielmehr wartet sie auf das geringste Zeichen der Reue auf seiten des Irrenden und ist bereit, zu ermutigen und Gelegenheit zur Besserung zu bieten. Mutterliebe sagt nicht: Ich habe dir einmal getraut; ich kann dir nicht wieder trauen. Vielmehr veranschaulicht sie die unwandelbare göttliche Liebe, wie Mrs. Eddy sie in „Christian Healing” (S. 19) beschreibt: „Das mit des Menschen Aufschieben geduldige unermüdliche Sein gewährt ihm jede Stunde neue Gelegenheiten”. Die Verfasserin erinnert sich noch gut eines Vorkommnisses aus ihrer Kindheit, als sie eine geliebte Lehrerin um Verzeihung bat und ihr versprach, sich bessern zu wollen. Die Lehrerin, die im Augenblick der Mutterliebe ermangelte, antwortete: „Ich kann dein Versprechen nicht annehmen: du hast es schon so oft nicht gehalten”. Eine solche Abweisung, die jemand, der sich wirklich sehnte, gut zu sein, mit Hoffnungslosigkeit erfüllte, kam sicher nicht aus einem von verstehender Mutterliebe überfließenden Herzen.
Mutterliebe hat keine Zeit für Kleinlichkeiten, für leicht verletzbare Empfindlichkeit. Wenn nun aber das Kind gereizt und mürrisch, ungehorsam und eigensinnig ist? Mutterliebe weiß, daß das Kind, um eine landläufige Redensart zu gebrauchen, die eine tiefere Wahrheit in sich birgt, als gewöhnlich erkannt wird, nur für den Augenblick nicht „sich selber” ist. Die Mutter, die reine Mutterliebe verwirklicht, gibt daher dort, wo jemand anders Zorn mit Zorn vergelten würde, umsomehr Güte und geduldige Liebe, bis der Irrtum vernichtet ist.
Die Mutterliebe, die die göttliche Liebe widerspiegelt, bekundet überdies Weisheit. Sie schließt das geliebte Kind nicht unnötigerweise von allem ab, um ihm Kämpfe zu ersparen, aus denen es vielleicht gerade wertvolle Lehren ziehen lernt. Warum sollten wir einem andern z.B. die Mühe ersparen wollen, ein Gefühl der Einsamkeit zu überwinden, wenn wir wissen, daß wir selber durch dessen Bekämpfung und Überwindung Gott näher gekommen sind—begonnen haben, Ihn als unsern „einzig wirklichen Verwandten auf Erden und im Himmel zu erkennen”, wie Mrs. Eddy Ihn nennt (Miscellaneous Writings, S. 151)? Die die Liebe widerspiegelnde Mutterliebe erspart dem Kinde nicht das Sammeln von Erfahrungen. Da die mit der Christlichen Wissenschaft vertraute Mutter weiß, daß Erfahrung für Wachstum und Entfaltung unerläßlich ist, ist sie auf der Hut, daß kein Schaden entsteht, und wartet ab, vielleicht im Hintergrund, immer bereit, nötigenfalls Rat zu erteilen, zu trösten oder zu ermutigen, jedoch immer darauf bedacht, das Kind gerade diese Dinge im göttlichen Vater-Mutter, im Gemüt, suchen und finden zu lassen. Der Muttervogel sucht seine Jungen nicht immer im Nest zu behalten; und wir sollten ebenso gern und freudig sehen, wie unsere Lieben rechte Unabhängigkeit erlangen und sich weniger auf uns und mehr auf das unfehlbare göttliche Gemüt stützen lernen.
Jesus offenbarte seinen Nachfolgern Gott als Vater. Mrs. Eddy hat uns den Ausdruck „Vater-Mutter-Gott” gegeben. Sie erkannte, daß Gott als Vater-Mutter verstanden dem menschlichen Herzen noch näher kommt, das nicht nur der starken, beschützenden väterlichen Eigenschaften sondern auch der zärtlichen, ermutigenden mütterlichen Eigenschaften so sehr bedarf.
Die Christliche Wissenschaft betont die biblische Erklärung, daß der Mensch zum Bild und Gleichnis Gottes erschaffen wurde. Der Mensch muß also die Vaterund die Muttereigenschaften Gottes widerspiegeln. Und wir bekunden diese Eigenschaften in dem Verhältnis, wie wir sie verstehen. Wahre Mutterliebe ist also nicht auf diejenigen beschränkt, die nach dem Fleisch Mutter sind. Alle Menschen können sie allen gegenüber, mit denen sie in Berührung kommen, widerspiegeln und ausdrücken. Laßt uns also im Denken immer mehr bei der unendlichen Liebe und dem Erbarmen unseres Vater-Mutter Gottes weilen, damit wir diese Eigenschaften in unserem Leben zum Ausdruck bringen!
