Die meisten Menschen sehen gern einem Wettlauf zu. Eine Schülerin der Christlichen Wissenschaft erinnert sich an einen, der vor langer Zeit auf einer Strecke leuchtenden Sandes der blauen See entlang stattfand. Es war an einem Nachmittage, für den Kinderspiele anberaumt waren, und dieser Wettlauf war für Kinder unter sieben Jahren. Ein Vater nahm sein Töchterchen, gerade ehe es mit den andern Kindern aufgestellt wurde, beiseite und ermahnte es, an vier Regeln zu denken: 1) das Ziel, die weit unten am Ende der Strecke wehende weiße Fahne, im Auge zu behalten, 2) sich nicht um die anderen Kindern zu kümmern noch zu sehen, wie sie vorwärts kommen, 3) nicht auf den Beifall zu achten und 4) nicht aufhören zu laufen, was auch komme!
Der Wettlauf begann. Viele Kinder waren flinker als die Gestalt im blauen Wollkleidchen; aber sie lief gleichmäßig weiter, unbekümmert darum, daß sie die letzte war, und hielt sich, wie man an ihrer Kopfhaltung sehen konnte, streng an die Weisung ihres Vaters, nicht vom Ziel wegzusehen. Bald wandten sich einige Kinder um, um zu sehen, wie schnell die anderen vorwärts kamen, stießen aber dabei aneinander und verloren wertvolle Zeit. Unsere kleine Freundin lief unbekümmert weiter, offenbar eingedenk der Regel, nicht nachzulassen und nicht auf andere zu achten. Die der Bahn entlang anwesenden Freunde der Kinder klatschten Beifall und ermutigten sie. Dies schien die Wettläufer am verhängnisvollsten zu beeinflussen; denn die meisten Kinder wandten sich um und winkten zurück, wodurch sie ihren Vorsprung verloren. Nun überholte das Kind, das die Belehrung seines Vaters befolgte und dem Beifall keine Beachtung schenkte, einige der anderen. Im nächsten Augenblick stand sie nur noch mit einem allgemein beliebten Jungen, der von Anfang an beträchtlichen Vorsprung gehabt hatte, in scharfem Wettbewerb. Aber gerade, als er sich dem Ziel näherte, wurde ihm so gewaltig zugejubelt, daß er nicht widerstehen konnte, mit der Hand zu winken, wobei er stolperte, so daß das kleine Mädchen im blauen Wollkleidchen allein die weiße Flagge erreichte. Schnell eilte ihr Vater herbei und nahm sie in die Arme. Aber die Kleine schien sich gar nicht darum zu kümmern, daß sie Siegerin geworden war. Freudestrahlend blickte sie zu ihrem Vater auf und sagte: „Ich habe daran gedacht!”
„Lasset uns ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset uns laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist”. Vergleichen wir diesen Wettlauf mit dem geistigen Erwachen jedes Menschen zu der Erkenntnis seines wahren Wesens als Kind Gottes, so täten wir gut, über jenen Kinder-wettlauf und die daraus zu ziehenden Lehren nachzudenken.
Auf Seite 22 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schreibt unsere geliebte Führerin Mary Baker Eddy: „Wartet auf euern Lohn, und ‚werdet nicht verdrossen Gutes zu tun‘. Wenn ihr in euren Bestrebungen von schrecklicher Übermacht bedrängt werdet und keinen augenblicklichen Lohn empfanget, geht nicht zurück zum Irrtum und werdet auch nicht säumig im Wettlauf”. Befolgen wir diese bestimmte Regel zum Erlangen des Sieges in unserem Wettlauf so gewissenhaft, wie jenes Kind sich an seines Vaters Gebote hielt? Obgleich sie „keinen augenblicklichen Lohn” empfing, lief sie stetig weiter und ließ sich durch das, was wie bevorstehendes Mißlingen aussehen mochte, nicht stören noch entmutigen. Das Ziel, geistige Vollkommenheit, wird nicht in einem Tage erreicht, auch nicht durch eine plötzliche geistige Erleuchtung, sondern durch das geduldige, beharrliche Bemühen, jede Regel in unserem Lehrbuch zu befolgen. Eine Stelle auf Seite 100 in „Miscellaneous Writings” bietet denen großen Trost, die der Vollkommenheit anscheinend langsam zuschreiten. Sie lautet: „Wer denkt daran, daß Geduld, Versöhnlichkeit, unablässiger Glaube und Liebe die Merkmale sind, durch die unser Vater die verschiedenen Stufen der Gesundung des Menschen von der Sünde und sein Eindringen in die Wissenschaft bezeichnet?” Scheint es geringfügig, jeden Tag bloß geduldiger zu sein, so haben wir doch die ausdrückliche Versicherung unserer Führerin, daß es ein Schritt himmelwärts ist. Erscheint es als unendlich kleiner Schritt vorwärts, unserer Umgebung mehr Liebe zu erzeigen, oder als etwas Geringfügiges, jeden Tag mehr Glauben an Gottes liebevolle Fürsorge zu erlangen? Das kann nicht sein; denn in der angeführten Stelle heißt es ausdrücklich, daß wir durch Erwerben dieser Eigenschaften „unsere Gesundung von der Sünde” erlangen.
Das Kind wurde angewiesen, sich nicht umzuwenden, um zu sehen, wie die anderen Kinder vorwärts kämen. Als die anderen Kinder dies taten, hinderten sie einander und verloren kostbare Zeit. Wenn ein Schüler der Christlichen Wissenschaft seinen Fortschritt an dem eines andern Schülers mißt, vergeudet er ebenfalls kostbare Zeit. Unser einziger Beispielgeber ist der Meisterchrist Jesus der Christus, an dessen Schritten wir mit Vorteil unsere eigenen messen können; und ein Schüler der Christlichen Wissenschaft sollte zu sehr damit beschäftigt sein, seine Schritte an denen des Meisters zu messen, als daß er den Schritten seiner Mitarbeiter viel Beachtung schenken könnte. Es ist immer hilfreich, andere geistig und daher liebevoll anzusehen, während das Beobachten unserer Mitarbeiter von einem menschlichen Standpunkt aus zu oft zu Tadel führt. Wie oft hören wir sagen: „Ich möchte nicht tadeln”! Die Christlichen Wissenschafter sollten ebenso entschieden aufhören, vernichtendem Tadel zu frönen, wie sie aufgehört haben, sich dem Trinken zu ergeben; denn er ist gewiß ebenso schädlich.
Ein weiterer zu beachtender Punkt ist, daß der Beifall der Zuschauer jene Kleinen mehr als alles andere aufhielt und in Verwirrung brachte. Während einige auf den Beifall achteten, holten andere, die sich von ihrer Absicht, das Ziel zu erreichen, nicht abbringen ließen, sie ein und überholten sie. Unsere Führerin kannte die Gefahren, die denen drohen, die menschlichen Beifall lieben. Auf Seite 245 in „Miscellaneous Writings” lesen wir: „Es ist schwer zu sagen, was für das menschliche Herz am verderblichsten ist, das Lob oder der Tadel der Menschen”. Daher sollten alle, die auf dem Weg zum Himmel stetig fortschreiten wollen, die biblische Ermahnung beachten: „Ihr esset nun oder trinket oder was ihr tut, so tut es alles zu Gottes Ehre”.
Die dem Kind erteilte erste und wichtigste Ermahnung: „Behalte stets das Ziel im Auge” schloß alle anderen Regeln in sich. Es wäre gut, wenn wir uns gelegentlich prüften und sähen, was wirklich unser Ziel ist. Auf Seite 85 in „Miscellaneous Writings” lesen wir: „Vollkommenheit, das Ziel des Daseins, wird nicht in einem Augenblick erreicht, und die dazu führende Erneuerung geht allmählich vor sich; denn sie erreicht ihren Höhepunkt in der Erfüllung der göttlichen Regel in der Wissenschaft: ‚Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist‘”. Vollkommenheit ist also das Ziel, dem wir unser Denken jeden Augenblick des Tages widmen sollten; und um dies zu tun, müssen wir bereitwillig jeden falschen Wunsch aufgeben. Unser Denken auf das Erlangen irdischen Reichtums, weltlicher Macht, von Beliebtheit und Ansehen zu richten und gleichzeitig dem Ziel Vollkommenheit schnell entgegenzuschreiten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Jesus sagte: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon”. Wir sollten uns bewußt sein, daß Vollkommenheit nicht etwas Abstraktes sondern in der Tat ein überaus praktisches Ziel ist. Denn wie wir der Verwirklichung der Vollkommenheit jeden Tag ein wenig näher kommen, wie wir barmherziger, gerechter, geduldiger, liebevoller werden, finden wir, daß wir unsere Alltagsaufgaben mit einer nie zuvor erreichten Leichtigkeit und Ordentlichkeit ausführen.
Es ist beachtenswert, daß das Kind den Sieg davontrug, weil es jede einzelne ihm erteilte Regel befolgte. Beim Übergang von einer materiellen Daseinsauffassung zum Ziel geistiger Vollkommenheit sollten wir ebenso gehorsam dieselben Gebote befolgen: das Ziel im Auge zu behalten, unsere Reisegefährten nicht lieblos zu mustern und zu tadeln, uns durch Menschenlob nicht aufhalten zu lassen, nie innezuhalten, was uns auch entgegentreten mag! Glücklich und des endgültigen Erfolgs gewiß ist, wer am Ende jedes Tages demütig und dankbar zu seinem Vater aufblicken und sagen kann: „Ich habe daran gedacht!”
