Eine Bettler, der von Geburt an lahm war, ließ sich täglich vor „die schöne” Tür des Tempels tragen. Zweifellos hatte er den Augenschein der Sinne für wahr gehalten und in der Annahmen, daß Gold und Silber die Quelle und Substanz der Versorgung seien, geglaubt, er besitze wenig oder nichts, während andere in Überfluß lebten. Da er geistige Werte und den Reichtum wahren Charakters nicht kannte, erwartete er offenbar seine Versorgung von Personen und vom Geld. Mit welch bedauernswerter, sehnsüchtiger Besorgnis er die in „Purpur und köstliche Leinwand” Gekleideten beobachtet haben muß! Wie bitter er enttäuscht und wie ungewiß die Befriedigung seiner Bedürfnisse gewesen sein mußte, solange er sich auf die veränderlichen Launen der Vorübergehenden verließ und darauf wartete, daß sie ihm ein paar Pfennige zuwarfen! War es bei solch falschem Verlaß befremdend, daß er lahm blieb und nicht auf seine Füße stehen konnte?
Aber eines Tages geschah etwas Wunderbares. Der eine von zwei Vorübergehenden, die der Bettler um ein Almosen bat, sah ihn forschend an. Er gab ihm kein Geld, sagte aber, er wolle ihm geben, was er habe. Dann faßte ihn der Apostel Petrus an der rechten Hand und gebot ihm im Namen Christi: „Stehe auf und wandle!” Und wir lesen: „Alsobald standen seine Schenkel und Knöchel fest”. Der Bettler stand aufrecht, gerade! In einem Augenblick war der lahme Arme in einen tätigen Menschen umgewandelt! Kein Wunder, daß der durch den Geist belebte und befreite Mensch unwillkürlich in einen Freudensturm ausbrach, wandelte und sprang und Gott lobte!
Als der Apostel dem Bettler seine Hilfe anbot, schenkte er offenbar dem Zustand seiner Füße oder seiner Armut keine Beachtung, sondern sah ihn mit durchdringendem geistigem Scharfblick forschend an, als blicke er durch die gebrechliche Persönlichkeit hindurch in das Bewußtsein des wahren Menschen hinein.
Indem Petrus den Verarmten von persönlicher Mildtätigkeit weglenkte, hob er ihn über schmarotziges Denken zu einem erhabenen Bewußtsein empor, das reich an dem Gold und Silber eines aufrichtigen Charakters ist. Wie der Apostel früher einmal durch geistigen Scharfblick über Fleisch und Blut hinweggesehen und den Christus erkannt hatte, der sich in Jesus bekundete, so muß er auch in diesem Falle das geistige Selbst so lebendig wahrgenommen haben, daß die menschliche Vorstellung von einem Bettler davor verschwand. Wo die Sinne für einen hilflosen Sterblichen zeugten, sah Petrus einen unversehrten und vollversorgten Sohn Gottes. Nicht mit Geld, sondern mit der belebenden Kraft des Geistes befriedigte er die menschlichen Bedürfnisse des Bettlers vollständig. Damit bewies der Apostel, was wir in der Christlichen Wissenschaft zu beweisen gelehrt werden, daß die geistige Eigenart in ihrem ganzen Reichtum immer gegenwärtig ist und jedes menschliche Bedürfnis befriedigt.
In der Wissenschaft des Seins erkennt man, daß sich der Reichtum des ganzen Weltalls im Bewußtsein des Menschen widerspiegelt. Ja, die Herrlichkeit und die Erhabenheit der geistigen Eigenart funkeln von zahllosen Ideen, wie der Himmel von Sternen erstrahlt. Die Fülle des Lebens, der Reichtum der Liebe, die wunderbaren Kleinode des Gemüts gehören ihm durch Widerspiegelung. Unendliche Weisheit, Einsicht, Tugend und geistige Kraft sind sein wahres Gut. Das wirkliche Selbst ist daher unendlich reich an Hilfsquellen, jeder Notlage gewachsen und reich an Gerechtigkeit. Wie kann dann der Mensch, der Sohn Gottes, Armut erfahren? Da er immerdar mit der Unendlichkeit verbunden ist, ist er immerdar frei von Begrenzung. Die Höhe, die Tiefe und die Breite des wahren Menschentums mit seinem Reichtum an Weisheit und Verständnis, die „köstlicher sind denn ... viel feines Gold”, stehen jedem für das geistig Gute empfänglichen Herzen zur Verfügung.
Wie Leben aus seiner Quelle, aus Gott, dem Leben, fließt, so kommt der volle Strom der Versorgung des Lebens von derselben Quelle. Immer gegenwärtig, immer tätig sind die erhaltenden Eigenschaften des Gemüts. Daher liegt alles, was wir brauchen, schon vor der Tür geistigen Denkens: die Demut, die Dankbarkeit und die selbstlose Liebe, die von Unfähigkeit befreien und das Erdreich besitzen. Die Versorgungsquelle liegt also nicht in weiter Ferne; sie befindet sich nicht unter der Erde, in Goldbergwerken, nicht in Banken oder in einem Geschäft, sondern das nach Gerechtigkeit hungernde und dürstende Herz entdeckt sie in dem Gold wahren Bewußtseins. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy (S. 329) lesen wir: „Wenn die Menschen verstehen würden, daß ihre wahre, geistige Quelle lauter Segen ist, dann würden sie danach ringen, ihre Zuflucht im Geistigen zu finden und würden Frieden haben”. Der sittliche Wert läßt uns erkennen, daß die Versorgungsgrundlage göttlich sein muß.
Wie oft glauben wir trotzdem, vom persönlichen Sinn irregeführt wie der Bettler vor alters, daß andere viel, wir dagegen wenig haben, und vergessen durch solche irrigen Vergleiche die geistigen Hilfsquellen unserer von Gott erhaltenen Eigenart. Nur allzu leicht verlassen wir uns ganz auf äußere Zustände, indem wir unsere Versorgung eher in persönlichem Besitz und in Dingen oder vielleicht in Freunden oder Erbschaften als in der unsichtbaren Substanz des Guten suchen. Haben wir erfolgreiche Geschäftsteilhaber oder eine gute Stellung, so glauben wir wohl, unser Einkommen sei gesichert. Verlassen sich aber diejenigen, die sich auf den materiellen Sinn anstatt auf das göttliche Prinzip stützen, nicht auf ungewissen Reichtum? Ist es zu verwunden, daß die Finanzwelt unter der falschen Vorstellung von Versorgung wankt und schwankt, solange die Menschen nur in Gold und Silber ihre Versorgung sehen? Allzuoft wird der Reichtum wahrer Eigenart durch Trachten nach Geld — nach sogenannten materiellem anstatt nach geistigem Gut — verdunkelt.
Nicht Geldmangel sondern Mangel an Geistigkeit ist der Irrtum, der dem Glauben an Armut zugrunde liegt. Mangel an Einsicht, an Weisheit und sittlicher Kraft, Mangel an wahrer Männlichkeit und Weiblichkeit beschränkt die Versorgung. In einer durch kleinliche Selbstsucht und Furcht bedrückten und beengten Denkweise ist wenig Raum vorhanden, um den Reichtum der Liebe aufzunehmen. Ist in den Lappen und Lumpen des Hochmuts und der Habgier irgend etwas zu gewinnen? Ist es, da in Selbstbedauern, Neid und Verneinung weder Substanz noch Idee ist, zu verwundern, daß die Menschen zuweilen in schreckliche Not geraten, wenn sie solchem Denken frönen? Da träge und unsittliche Gesinnungen wertlos sind, führen sie zu Armut und Entbehrung. Sind gewisse Völker nicht durch Aberglauben und Unwissenheit jahrhundertelang in Mangel und Armut versunken? Selbst wenn Eigenwille, Ehrgeiz oder Anmaßung großen materiellen Reichtum zur Folge haben, kann das Leben des Besitzers dennoch arm sein. Mangel ist also offenbar kein materieller sondern ein Bewußtseinszustand. Solange man glaubt, daß Versorgung vom Materialismus abhänge, hat man, ob man viel oder wenig Güter dieser Welt besitzt, immer ein Gefühl der Begrenzung, des Mangels und des Leides.
Als Anhäufung persönlichen Besitzes betrachtet, ist weltlicher Reichtum nur eine endliche Vorstellung des menschlichen Gemüts, ein zäher Glaube an die Materie; und Reichtum, der durch Selbstsucht, Habgier oder Unehrlichkeit gewonnen wird, ist eher eine Beschränkung und Begrenzung als eine Bereicherung unseres Lebens. Ist in Reichtum, der vom Geiste der Furcht, der Selbstsucht oder von Mangel an Liebe durchdrungen ist, mehr Gutes enthalten als in Armut? Der Glaube an materiellen Reichtum muß also wie der Glaube an Armut durch geistige Mittel überwunden werden; denn der Materialismus macht Reiche und Arm arm. „Nimm Reichtum, Ruhm und soziale Einrichtungen weg, welche nicht ein Jota in der Wagschale Gottes wiegen, und du gewinnst klarere Anschauungen vom Prinzip” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 239). Unser menschliches Bedürfnis ist daher nicht in erster Linie Geld; was uns not tut, sind wahre Charaktereigenschaften, die verarmte Gedankenzustände heilen.
Der Wert eines Menschen wird also nicht daran gemessen, wieviel materiellen Besitz er hat, sondern am Wert seines Charakters, an dem Grad, bis zu welchem er von Weisheit und Christlichkeit Gebrauch macht, am Reichtum seines Lebens. Demnach sind rechtmäßige Geldangelegenheiten hauptsächlich von wahren Eigenschaften abhängig. In „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 277) schreibt unsere Führerin: „Der Charakter und die Lebensweise der Menschen bestimmen den Frieden, das Gedeihen und das Leben der Völker”. Ist nicht schon mancher auf Grund seines Charakters, seines Fleißes, seiner Treue und seines Mutes befördert worden? Sind Geschäftsunternehmen nicht im Verhältnis zu ihrer Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit erfolgreich gewesen? In dem Maße, wie sittlicher Mut statt Furcht, Liebe zu Gott statt Liebe zum Geld vom Denken Besitz ergreifen, weichen die menschlichen Wertbegriffe den Eigenschaften des geistigen Bewußtseins, und das menschliche Wirtschaftswesen wird dem göttlichen Gesetz untertan. Wer sich über alles Kleinliche und Ärmliche erhebt, um im Reiche der Ideen zu leben, zu leben, wird unbedingt von diesen Ideen in unbegrenzter Weise erhalten. Ein von selbstloser Liebe, Redlichkeit, Offenheit und Aufrichtigkeit erfüllter Gemütszustand drückt die Fülle der Geistigkeit aus. In Liebe gibt es sicher keine Bedürftigkeit, in Demut keinen Mangel, in Güte keine Teurung, im wirklichen Selbst keine Begrenzung.
Wenn also die Erkenntnis des wahren Menschentums in unserem Denken dämmert, lernen wir uns betreffs unserer Bedürfnisse auf das Widerspiegeln Gottes verlassen. Wenn wir uns über den materiellen Versorgungsbegriff erheben und darauf bedacht sind, die Tugenden wahrer Eigenart ernstlich anzuwenden, werden wir nicht nur von Mangel geheilt, sondern erfahren auch eine Umwandlung unseres Lebens. Wir lernen gegen uns selber und gegen andere überzeugend demütig und geistig ehrlich sein. So wird uns unsere Versorgung als Folge unseres Gehorsams gegen das göttliche Gesetz offenbar, und sie wird christlich und wissenschaftlich entfaltet und beschützt.
Wer sich durch läuternde Erfahrungen beim Überwinden von Mangel verständnisvoll und geduldig hindurcharbeitet und sich über besorgtes, verzagtes Denken zu der Fülle geistig wissenschaftlichen Denkens erhebt, beweist die Fülle der Gerechtigkeit den biblischen Verheißungen gemäß. Beim Erbringen seines Beweises in Geldangelegenheiten lernt der Christliche Wissenschafter weder Mangel fürchten noch Reichtum begehren, sondern sich durch Vergeistigung seines Denkens und durch Anwendung der Hilfsquellen wahren Charakters über beides erheben. Er setzt sein Vertrauen nicht auf Geld, sondern auf das bleibende Gut Aufrichtigkeit und redliches Handeln. Er lernt verstehen, daß wahrer Charakter der Beweis wahren Reichtums ist.
Heute sitzt die ganze Welt, ihres Vertrauens auf finanzielle Systeme beraubt, ein ohnmächtiges und verkrüppeltes Opfer der Liebe zum Geld, vor den Türen des Tempels Bewußtsein und bettelt um Ideen und einen weiter reichenden Blick. Aber „ein anderer Tröster” ist in der Christlichen Wissenschaft gekommen und erforscht das verarmte Handelsleben geheilt und das Wirtschaftswesen auf der wissenschaft: „Stehe auf”— erhebe dich über den Materialismus und erkenne den Sohn Gottes! Wer dieser Forderung Folge leistet, sich also nicht auf den menschlichen Sinn sondern auf das göttliche Prinzip verläßt, wird aufrecht, gerade, von Liebe zum Geld unabhängig dastehen und sich über kleinliche materielle Verfahren, über das Trachten nach materiellem Reichtum und dessen Anhäufung erheben. So wird das verarmte Handelsleben geheilt und das Wirtschaftswesen auf der wissenschaftlichen Grundlage der wahren Menschenbrüderschaft wieder aufgerichtet werden. So wird Armut aus dem menschlichen Bewußtsein ausgeschieden werden, und das Denken der Menschen wird sich über die irrigen Vorsorgungsbegriffe zu der Erkenntnis unvergänglichen Reichtums erheben. Dann wird bewiesen werden, daß, wie der Psalmist erklärte, der Same des Gerechten nicht um Brot betteln muß, sondern tätig, nützlich und im Preisen Gottes reich sein wird.
