Die Jugend ist vor allem die Zeit des Wachstums und der Entwicklung. Sie braucht aufbauende geistige Nahrung. Daher brauchen wir uns nicht zu wundern, daß manche junge Leute nichts von Religionen wissen wollen, die nur unbestimmte Versprechungen künftigen Gewinnes zu bieten scheinen, während sie auf gegenwärtige Züchtigungen und Beschränkungen Nachdruck legen. Sie fordern, wie viele Erwachsene, mit Recht gegenwärtigen Augenschein und Beweis der Gültigkeit religiöser Versprechungen. Bloße Lehrsätze oder Vorschriften oder Kirchenbräuche befriedigen nicht. Die Christliche Wissenschaft sondert diese Spreu von der Religion ab und bietet den reichen Kern der lebendigen Wahrheit, die ebenso für Kinder wie für Leute jugendlichen und gereifteren Alters zugänglich und anwendbar ist.
Was ist diese Wahrheit? Sie ist die beweisbare Tatsache, daß Gott das einzige Leben, das einzige Gemüt, die einzige Macht, Intelligenz und Substanz ist; daß Gott unendlich, im höchsten Grade und ausschließlich gut ist; daß Gott kein fernliegender Begriff, sondern die lebendige, allgegenwärtige Wirklichkeit ist, und daß der Mensch die Idee, das vollkommene Bild und Gleichnis, das geliebte Kind des unendlichen, liebenden Vater-Mutter-Gottes ist, der alles Wirkliche mit unfehlbarer Weisheit und in Fülle schuf und erhält.
Aber, sagt der Schüler, man bekommt doch in dieser Welt nichts umsonst. Was muß ich denn für diese Wahrheit bezahlen? Vielleicht ist der Preis zu hoch. Eine junge Studentin äußerte neulich diese Fragen in etwas verblümter Form. Sie war unter Christlichen Wissenschaftern aufgewachsen, hatte aber das Wesentliche der Lehre bis zum Punkte wirksamen und folgerichtigen Beweises nie erfaßt. Der Grund dafür kam klar zum Vorschein, als sie erklärte: „Ich habe Bedenken, die Wissenschaft anzunehmen oder mich ernstlich damit zu befassen; denn ich fürchte, Verschiedenes aufgeben zu müssen, was mir sehr gefällt”.
Dieses offene Eingeständnis warf sofort mehrere wichtige Fragen auf. Ist die Christliche Wissenschaft engherzig? Ist sie ein Evangelium der Verneinung und des Verzichts? Verwehrt sie ihren Anhängern berechtigte Freuden und Genüsse, die alle, auch die jungen Leute, gerne haben?
Daß die Christliche Wissenschaft nicht begrenzt oder hemmt, steht außer Frage. Sie ist das Evangelium der Befreiung von Begrenzungen. Sie offenbart Gott als unendlich, und den Menschen als Gottes unendliche Idee, die grenzenlose Freude und Freiheit genießt. Die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, erinnert uns beständig an den Reichtum unseres himmlischen Vater-Mutter-Gottes. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 60) erklärt sie: „Seele hat unendliche Mittel, mit denen sie die Menschheit segnet”. Gott, der die göttliche Liebe ist, befriedigt alle unsere menschlichen Bedürfnisse. Man beachte das Wort „menschlichen”; denn die Wissenschaft lehrt, daß Gottes Liebe einen gerade dort, wo man sich befindet, erreicht und berührt. Und sie zeigt ebenfalls, wie freudige Dankbarkeit die Blüten des menschlichen Bewußtseins dieser Erleuchtung öffnet.
Die Christliche Wissenschaft ist keine freudlose Religion. Sie zeigt den Weg zu wahrer Freude und zum Glück. Ist sie aber engherzig? Jede Wissenschaft muß im Sinne von Genauigkeit engherzig sein. Versuche in der Naturwissenschaft werden nach streng vorgeschriebenen Verfahren ausgeführt, die auf genau festgesetzten Begriffen, Regeln und Gesetzen beruhen. Sport fordert Selbstzucht und Übung. Entdeckungsfahrten von geschichtlicher Bedeutung wie die Forschungsreisen Byrds erfordern Beachtung der kleinsten Einzelheiten und Einhaltung einer genauen Ordnung. Nie ist eine große Errungenschaft ohne Befolgung bestimmter Regeln gemacht worden. Nie ist eine Höchstleistung ohne Übung und Selbstzucht übertroffen worden. Erleuchtung kommt dem Denken, das bereit ist, sie zu empfangen. Auch in der Christlichen Wissenschaft muß man um Erleuchtung nicht bloß arbeiten, sondern danach ringen. Man muß sein Denken der Wahrheit öffnen und sie entschlossen und folgerichtig üben und anwenden. „Die Christliche Wissenschaft ist”, wie unsere Führerin erklärt, „keine Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß es ohne Arbeit in einer bestimmten Richtung keine Vollkommenheit gibt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 457).
Überdies muß man, um bei jedem Bestreben erfolgreich zu sein, sich ganz dafür einsetzen. Wie der Gelehrte, der Wettkämpfer, der Erfinder, die sich ganz ihrer Aufgabe widmen, so muß der Christliche Wissenschafter oft Dingen die Tür verschließen, die an sich unschuldige Zerstreuungen sein mögen, die aber, wenn übermäßig getrieben, nichtsdestoweniger zeitraubend sind und von dem Hauptweg zum Ziel ablenken und auf folternde Seitenwege führen. In diesem Sinne ist die Christliche Wissenschaft „eng” und fordert von ihren Nachfolgern, daß sie von dem Pfad rechten Verhaltens nicht abweichen. Aber das billigt Enthaltsamkeit so wenig wie Sinnlichkeit; denn der Materialismus kann sich ebensogut in entsagender Selbstverleugnung wie in Genußsucht bekunden. Sich etwas versagen und dabei sich beständig danach sehnen, ist geringer Gewinn.
Der Satz „Verlust ist Gewinn” in dem Lied unserer Führerin (Miscellaneous Writings, S. 389) mag hart klingen. Aber haben wir denn auf dem Lebenswege, den uns die Christliche Wissenschaft erschlossen hat, schon einmal innegehalten und unsere Gewinne und Verluste miteinander verglichen? Laßt uns sehen! Wir geben auf — verlieren — Krankheit, Unfall, Sorge, Ungewißheit bei Prüfungen, in Geldfragen und beim Suchen einer Stellung. Wir gewinnen Frieden, Gesundheit, Schutz, Gleichmut und größere Denkfähigkeit. Wir geben unsern Glauben an das Materielle mit seiner Armut und seinen Begrenzungen auf, wir gewinnen Freiheit, Reinheit, Herrschaft, geistige Kraft. Wir brauchen die Jugend nicht aufzugeben; denn der wirkliche Mensch ist fortdauernd frisch, kräftig, schön und verliert nie sein ewiges Geburtsrecht Vollkommenheit. Wir brauchen auch keine Freude oder zuträgliche Erholung aufzugeben. Unsere Führerin betont wiederholt das geistige Wesen wirklicher Freude und schildert die Freiheit der Wirklichkeit mit den Worten: „Die unendlichen Ideen des Gemüts eilen dahin und ergötzen sich” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 154). Dieses Bild enthält gewiß nichts von Verlust an Tatkraft, Freiwilligkeit oder der Fähigkeit, sich zu freuen. Wir brauchen ferner unsern Beruf oder unser Geschäft nicht aufzugeben, sondern wir erlangen die Mittel, um sie zu verherrlichen, zu veredeln, zu neuer Bedeutung zu erheben. Und schließlich brauchen wir auch Liebe, Innigkeit oder menschliche Zuneigung nicht aufzugeben; denn wir gewinnen einen immer größer werdenden Kreis der Liebe, der Liebenswürdigkeit und der Lieblichkeit — die Inspiration vom Vater, der „ganz lieblich” ist, von dem allgegenwärtigen Gott, der die Liebe ist.
Sind falsche Gelüste, unwürdige oder sinnliche Gewohnheiten aufzugeben, so vergehen diese nach allgemeiner Erfahrung in der Christlichen Wissenschaft fast unbemerkt, wenn das Bewußtsein von rechten Wünschen und dem ernsten Sehnen nach dem Guten erfüllt ist. Sie hinterlassen also keine Leere und keine unerfreuliche Nachwirkung.
Der Christliche Wissenschafter gibt gern einen engherzigen Sinn von Nationalismus auf und erlangt dafür einen Gesichtskreis, der so umfassend ist, daß er die ganze Menschheit einschließt, wenn er verstehen lernt, daß es nur ein Gemüt gibt, in dem wir alle „leben, weben und sind”.
Kurz, der Schüler dieser Wissenschaft verliert nichts Wirkliches, sondern gewinnt eine ganze Welt dauernder, herrlicher, befriedigender Wirklichkeit. Er verliert Schatten und erwirbt Substanz. Er gibt Knechtschaft auf und erlangt Herrschaft. Er verliert langsam aber sicher allen Glauben, daß er in der Materie oder durch sie lebe oder sterbe, und erlangt, was Paulus „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes” nennt.
