Inmitten menschlicher Mißverständnisse und angesichts liebloser Behandlung seitens derer, von denen wir uns für berechtigt fühlen, Freundlichkeit zu erwarten, wendet sich das Denken so natürlich und so vertrauensvoll an Gott als die Liebe, wie sich ein Kind bei drohender Gefahr den Armen seiner Mutter zuwendet in der Gewißheit, dort verstehende Liebe zu finden.
Jesus erzeigte bei seinem heilenden Wirken beständig die Liebe, die versteht, und das Verständnis, das liebt — nicht menschlich liebt, sondern göttlich. Bei ihm finden wir nie ein kaltes, verstandesmäßiges Verständnis des Buchstabens, noch eine einseitige und unweise menschliche Zuneigung. Als ihm der Hauptmann erzählte, daß sein Knecht zu Hause „große Qual” habe, erwiderte Jesus unverzüglich und liebevoll: „Ich will kommen und ihn gesund machen”. Sein Gleichnis vom verlorenen Sohn, der sein Vaterhaus verließ und verwahrloste, ist ein Muster christlichen Erbarmens und verstehender Liebe. Der Sohn hatte sich bei seiner Rückkehr erniedrigen wollen; aber der Vater, der offenbar aufrichtige Reue wahrnahm, lief ihm entgegen, „da er noch ferne von dannen war”. Das Kleid, der Ring und die Schuhe, die er für den zurückgekehrten Wanderer holen hieß, versinnbildlichen die zärtliche Fürsorge und die liebreiche Vergebung der göttlichen Liebe. Der unbußfertige Übeltäter findet den Weg des Übertreters schwierig. Erkennt er aber erst einmal seinen Irrtum und bringt er wie der verlorene Sohn Reue zum Ausdruck, so wird er finden, daß die Liebe schon gegenwärtig ist, ihm entgegenzukommen.
Verständnis ist nicht eine seltene Gabe, die einigen gewährt und anderen vorenthalten ist. Es ist eine Gabe Gottes, weshalb es allgemein ist; es wohnt jedermann inne. Im Bericht des Lukas über Jesu letzte Anweisungen an seine Jünger lesen wir: „Da öffnete er ihnen das Verständnis”. Was geweckt oder geöffnet werden kann, ist schon vorhanden. Man darf nicht vergessen, daß für den geistigen Sinn das Verständnis nie schlafend ist, sondern daß es nur den materiellen Sinnen so zu sein scheint. Nach menschlicher Ansicht scheint es Gradunterschiede des Schlafs im Einzelbewußtsein zu geben. Beim Anblick eines Schlafenden sind wir uns bewußt, daß er nach dem Aufwachen sofort beginnt, das zu tun, wozu er fähig ist. Wir brauchen ihn nur aufzuwecken. Wir haben ihn nicht sprechen oder gehen zu lehren; er hat die Fähigkeit, es zu tun, und wendet sie an, sobald er wach ist.
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