Viel von dem, was die Christliche Wissenschaft von Heilung und Erlösung lehrt, geht aus Mrs. Eddys wunderbarer Erklärung hervor: „Der Weg, den Irrtum aus dem sterblichen Gemüt zu entfernen, ist der, die Wahrheit mit Fluten der Liebe einströmen zu lassen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 201). Wenn ein Christlicher Wissenschafter Liebe in seinem Denken über jedermann genügend bekunden kann, wird diese Liebe schließlich jede Irrtumserscheinung vertreiben.
Wenn man eine so gütige, so starke, so beständige Liebe dartun kann, daß man die Vollkommenheit des Menschen unwillkürlich erkennt und sich nicht fürchtet, Gott treu zu sein und seine Anerkennung dieser Vollkommenheit zu behaupten, wird die Welt wieder solche Heilungen erleben, wie Jesus sie vollbrachte. Dann wird das Heilen ununterbrochen fortdauern. Die Liebe, die alle in sich schließt, segnet natürlich alle. Die Liebe, die nicht überredet werden kann, an der Unversehrtheit der Schöpfung der Liebe oder an der Allgegenwart und Macht der Liebe zu zweifeln, tilgt die Annahme einer andern Macht oder Wirklichkeit so vollständig, daß nichts den Beweis der Obergewalt des Guten verhindern kann. Ein solcher Beweis ist der Höhepunkt christlich-wissenschaftlichen Heilens, das jeder hingebungsvolle Christliche Wissenschafter für sein Ideal hält.
Das christlich-wissenschaftliche Heilen beruht auf der von unserer Führerin in „der wissenschaftlichen Erklärung des Seins” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 468) dargelegten Tatsache der Allheit Gottes, und dies heißt praktisch: sich und anderen vergeben, weil man, um die Allheit Gottes zu beweisen, alles, was dem Guten unähnlich ist, zurückweisen und als unwirklich beweisen muß. Fortschreitendes Beweisen der heilenden Wirksamkeit der Christlichen Wissenschaft hängt daher von einer fortschreitend vergebenden Gesinnung ab; aber man muß zuerst sich selber vergeben, ehe man einem andern wahrhaft vergeben kann. Das Gebot der Bibel: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und ... deinen Nächsten wie dich selbst”, schließt in sich, daß man sich selber lieben muß, daß man die Art seines eigenen wahren Seins als der Widerspiegelung des Gemüts bewahren und aufrechterhalten muß. Auf keine andere Art kann man anmaßenden Groll vollständig ablegen, das Verwesliche ablegen und die Unverweslichkeit anziehen. Und man muß anderen, allen anderen vergeben, um sich selber wahrhaft zu vergeben und dem von dem körperlichen Sinn auferlegten Elend zu entrinnen.
Um sich vom Irrtum und von der Begrenzung und dem Leiden, das der Irrtum nach sich zieht, zu befreien, muß man vergeben und immer wieder vergeben, bis einem im Denken kein Irrtum mehr wirklich scheint — bis man sich nichts mehr bewußt ist, was vergeben zu werden braucht. Man muß vergeben, bis Gott, das Gute, einem tatsächlich das All wird. So geht das wahre Heilen vor sich, und solches Heilen ist für den einzelnen wie für alle erlösend.
Wenn Christliche Wissenschafter Kirchenmitglieder werden, unterschreiben sie einen Glaubenssatz, nach dem sie anerkennen, daß Vergebung der Sünde in der Zerstörung der Sünde besteht (Wissenschaft und Gesundheit, S. 497), und dies schließt die Verpflichtung in sich, die Annahmen Beleidigung oder Irrtum aus ihrem Bewußtsein zu tilgen. Da das Bewußtsein grundlegend ist, so muß das Böse aus dem Bewußtsein ausgerottet werden, ehe es aus der Erfahrung verschwinden kann. Jesus sagte: „Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen?” Und auf die Frage, ob man siebenmal vergeben soll, antwortete er: „Siebzigmal siebenmal”, mit andern Worten, immer! Man kann das Gute nie völlig beweisen, solange man glaubt, daß einem Unrecht geschehen sei — solange man glaubt, daß der Irrtum je tatsächlich bestanden habe.
Alles Heilen ist Vergeben. Unsere eigene Erlösung oder Errettung hängt von dem Vergeben, dem Vernichten des Glaubens an das Böse ab. Es gibt wohl kaum eine andere menschliche Freude, die der Freude des Vergebens gleichkommt. Vergebung ist die offene Tür zum Himmel.
Wahre Vergebung oder christlich-wissenschaftlicher Beweis hängt von unserer Treue gegen den göttlichen Ausblick ab. Die Christliche Wissenschaft kann nie von einem menschlichen Gesichtspunkt aus bewiesen werden. Eine auf dem Zeugnis der körperlichen Sinne beruhende menschliche Art und Weise, die Dinge anzusehen, vergibt nie wahrhaft, weil sie nicht zu vergeben versteht. Das Denken kann unmöglich etwas ganz auslöschen, wovon es glaubt, daß es tatsächlich geschehen sei.
Das sterbliche Gemüt glaubt immer an die Wirklichkeit dessen, wofür der sterbliche Sinn zeugt. Daher ist Vergebung — das Sehen und Beweisen der Unwirklichkeit des Bösen — der Weg aus der Sterblichkeit heraus zur Unsterblichkeit, aus Krankheit und Mißklang heraus zur Harmonie und Gesundheit. Sie fördert die Wiedergeburt. Die Wiedergeburt beginnt und geht weiter mit dem wissenschaftlichen Sinn der Vergebung. Der geistige Sinn, der das materielle Zeugnis tätig verneint, stellt unumgänglich eine vergebende Gesinnung her. Ganze Vergebung würde die Erkenntnis bringen, daß Gott, das Gute, das All ist. Daher ist man in dem Maße, wie man vergibt, von neuem aus dem Geist geboren.
Der Geist ist Intelligenz und Liebe und Wahrheit. Er weiß und umfaßt alles, was wahr ist, und der Geist weiß, daß alles, was wahr und wirklich ist, immerdar würdig und schön ist. Daher ist Vergebung eine Notwendigkeit geistigen Wissens. Man muß sie beständig üben, wenn man geistig wachsen will. Unseren sogenannten Feinden vergeben, macht diejenigen, die nach Vergebung verlangen, zu unseren Freunden; und offenkundig verstockter Irrtum verliert dadurch die Macht, einem zu schaden. Je höher wir Gott würdigen, desto leichter ist es, zu vergeben und zu lieben, weil richtiges Erfassen des Seins die Unpersönlichkeit des Guten und des Bösen enthüllt. Wer jemand vergeben hat, hat die göttliche Liebe bewiesen; und ohne diese Liebe können die Anmaßungen des Irrtums nicht aufgedeckt und vernichtet werden. Jeder wissenschaftlich ans Licht gebrachte verborgene Irrtum wird dieselbe vergebende Liebe, die ihn aufgedeckt hat, unschädlich gemacht. Wir sehen also, daß wir ohne wachsende Wertschätzung der Liebe nicht fortfahren können, die Liebe zu beweisen und so die vollständige Nutzlosigkeit des Irrtums in allen seinen Verkleidungen darzutun.
Daß „die göttliche Liebe immer jede menschliche Notdurft gestillt hat und sie immer stillen wird” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 494), ist in der Christlichen Wissenschaft eine Selbstverständlichkeit. Und in ihrer geistigen Auslegung des schönen Gebets Jesu — des Gebets des Herrn: „Und vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern” als: „Und Liebe spiegelt sich in Liebe wider” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 17), weist unsere Führerin klar auf die heilende Wirkung wahrer wissenschaftlicher Vergebung hin.
