In den Sprüchen Salomos sagt Weise, er bitte Gott nur um zwei Dinge, nämlich, daß „Falschheit und Lüge” von ihm fern gehalten werden mögen, und daß er nicht unter „Armut und Reichtum” leiden müsse. Solche Wünsche sind so alt wie das geschriebene Wort und wahrscheinlich älter. „Es ist alles ganz eitel”, ist ein altes Thema, dessen Fortsetzung in den Worten des Psalmisten zusammengefaßt ist: „Wende von mir den falschen Weg und gönne mir dein Gesetz”.
Solche Empfindungen sprechen nachdrucksvoll von der Beharrlichkeit, mit der das emporstrebende Denken eine Stufe erreicht, wo erkannt wird, daß menschliche Leiden und menschliche Missetaten nicht zu den Erfahrungen des wirklichen Menschen gehören. So sieht man, daß das Erkennen des Wahren dem Unwahren die Maske abnimmt.
Die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft Mary Baker Eddy besaß in hohem Grade die geistige Inspiration, die den Irrtum entlarvt. Durch ihr ganzes Lehren und Beweisen des Christusheilens hindurch stellte sie Krankheit, Sünde, Disharmonie und Tod als Täuschungen oder Trugvorstellungen bloß.
Auf die Notwendigkeit, die Art des Irrtums zu verstehen, hinweisend, schreibt sie unter der Randüberschrift „Der ewige Mensch erkannt” im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 252): „Eine Kenntnis des Irrtums und seiner Machenschaften muß dem Verständnis der Wahrheit, welches Irrtum zerstört, vorausgehen, bis der ganze sterbliche, materielle Irrtum schließlich verschwindet und die ewige Wahrheit, der von und aus dem Geist erschossene Mensch als das wahre Gleichnis seines Schöpfers, verstanden und erkannt wird”. Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß Mrs. Eddy es für notwendig hielt, die trügerische Art des Bösen gewahr zu werden; denn sie leitet diese Behauptung mit der Erklärung ein: „Wenn die salschen menschlichen Annahmen auch nur ein wenig von ihrer eigenen Falschheit verstehen lernen, beginnen sie zu verschwinden”.
Manchmal wird eingewendet, daß es gefährlich sei, den Irrtum zu behandeln, als ob er nichts sei, da dies ganz dazu angetan sei, den Irrtum eher zu übersehen als zu zerstören. Diese Ansicht wird als folgerichtige Auslegung der Lehren der Christlichen Wissenschaft vorgebracht, die jedoch zeigen, daß das Böse aufgedeckt, bloßgestellt, verneint und zerstört werden sollte.
Es genügt nicht, bloß zu sagen, daß der Irrtum nichts sei. Der Ausdruck „Wissenschaft” schließt die Mitbedeutung des Wissens der Tatsachen des Seins in sich. Im wissenschaftlichen Behandeln des Glaubens an den Irrtum ist es wesentlich, daß klar verstanden wird, daß der Irrtum nichts, nicht etwas ist. Der Irrtum muß nichts sein, wenn die Wirklichkeit etwas ist. Die Nichtsheit des Irrtums muß erkannt werden. Der Irrtum muß als Nichts wahrgenommen werden. Die Trugvorstellung Irrtum wird nicht durch Schmähungen vertrieben. Sie wird durch das Verständnis vertrieben, daß sie eine Lüge ist — eine Lüge, die überdies im individuellen Bewußtsein zurückzuweisen ist.
Nun wird eine Lüge null und nichtig gemacht, wenn die wahren Tatsachen, die sie falsch darstellt, klar verstanden werden. Früher wurde tatsächlich geglaubt, daß die Erde flach sei. Aber Männer der Wissenschaft ließen sich weder durch den Augenschein noch durch den allgemeinen Glauben täuschen. Sie entdeckten die Tatsachen der Naturwissenschaft und der Sternkunde und erkannten aus diesen Tatsachen, daß die Erde eine Kugel ist. Diese Erkenntnis zerstörte für sie jede im Widerspruch mit der Tatsache stehende Einwendung, und die Wahrheit über die Gestalt der Erde durchdrang nach und nach das allgemeine Denken und beseitigte viele falsche Vorstellungen.
Ebenso ist es in der Metaphysik wesentlich, daß die Tatsachen, die der Irrtum falsch darstellt, klar verstanden werden. Da aller Irrtum eine Lüge über Gott, den Menschen und das Weltall ist, ist es einleuchtend, daß die Art des Irrtums in dem Verhältnis augenscheinlich werden muß, wie die Tatsache eines unendlich ausgedrückten unendlichen Gottes zugegeben wird.
So sehen wir, daß der Irrtum nie wirklich ist. Er ist immer eine Lüge über das, was wirklich ist. Er steht im Widerspruch mit der wahren geistigen Schöpfung. Er hat nie wirkliche Tätigkeit oder Macht, sondern flüstert falsche Tätigkeit und Macht ein. Seine Erklärungen betreffen einen falschen Begriff vom vollkommenen Menschen. Er ist ein mutmaßlicher Anspruch materiellen Lebens, eine Entstellung des ewigen Lebens. Wie alle, die an eine flache Welt glaubten, die Begrenzungen ihrer eigenen Selbsttäuschung erlebten, obgleich ihr Glaube die Welt nicht flach machen konnte, so führen irrige Annahmen zu nichts anderem als Trugvorstellungen.
Die Tatsachen werden von der Lüge nie berührt. Die Tatsache, daß Gott der Geist, das Leben, die Wahrheit, die Liebe ist, und daß Sein unbegrenzbares Weltall einschließlich des Menschen als Sein Ausdruck besteht — diese Tatsache schließt allen Irrtum als Gegenwart, Vorgang und Macht aus.
Das Böse existiert nicht im Reich des Wirklichen. Seine Behauptungen sind falsche Erklärungen, falsche Auslegungen, Fehler. Es ist nie ein Teil der Tatsache, die es falsch auffaßt. Seine angebliche Macht ist nur eine Vorspiegelung der einen göttlichen Macht. Sein beanspruchter Einfluß ist nur ein verkehrter Sinn des einzigen wahren Einflusses, der geistig ist. Seine vermeintliche Intelligenz ist nur eine Entstellung der nicht umkehrbaren Weisheit des Gemüts. In der Waage des Lebens gewogen, wiegt es nichts. Es verschwindet unter der Linse der Wahrheit. Im Schmelztiegel der Liebe erprobt, erweist es sich als nichts.
Des Irrtums angebliche Machenschaften sind lauter Verneinungen der Wahrheit. Er ist nie aufbauend, da er sich immer selbst zerstört. Er ist nie inspirierend. Er befriedigt nie, ist nie sicher; denn, da er nichts als Täuschung ist, täuscht er immer sich selber, weil er die Vorstellung einer Lüge ist.
Eine solche „Kenntnis des Irrtums und seiner Machenschaften” zeigt uns, daß das Böse weder Wesenheit noch Macht hat, sondern bloß Trugvorstellung ist, die durch das Verständnis der Wahrheit zerstört wird.
Wenn wir sehen, daß des Irrtums einziges Wirkungsgebiet in falscher Vorstellung ist, werden wir von den beschränkenden Annahmen, daß er eine geheimnisvolle Gewalt über uns habe, befreit. Dann wenden wir uns vertrauensvoll an die Wahrheit, wissend, daß uns die Einflüsterungen der Machenschaften des Irrtums nicht mehr wirklich erscheinen, wenn unser Gewahrwerden der Allheit Gottes gewachsen ist. Wenn wir wahrnehmen, daß der Irrtum „Falschheit und Lüge” ist, was den vollkommenen Gott, das Gemüt, und Seine vollkommene Idee, den Menschen, betrifft, werden wir sicher nicht unter „Armut oder Reichtum”, d. h. unter Mangel an geistiger Erkenntnis oder Anhäufung materiellen Behagens, leiden müssen.
Wenn wir unser Denken von dem „falschen Weg”— der Gewohnheit zu glauben, daß Irrtum Macht habe — frei halten, entfaltet sich in unserem Bewußtsein die Tatsache, daß uns die unendliche Liebe in der Tat Gottes Gesetz gnädig gewährt hat. Und im Lichte dieses Gesetzes sehen wir, daß Irrtum weiter nichts als ein Anspruch, nie eine Tatsächlichkeit ist. Mrs. Eddy schreibt in „Unity of Good” (S. 54): „Um geheilt zu werden, muß man den falschen Anspruch aus den Augen verlieren. Wenn der Anspruch dem Denken gegenwärtig ist, dann wird Krankheit so greifbar wie jede Wirklichkeit” und: „Um gesund zu sein, müssen wir für jeden Irrtumsanspruch unempfindlich sein”. Und sie fügt hinzu: „Wie mit Krankheit verhält es sich auch mit Sünde”.
Wenn wir dieses Verständnis erlangen, sehen wir den Irrtum nicht mehr als etwas Wirkliches an, wovon wir zu befreien sind, und behandeln ihn als falschen Anspruch, den wir durchschaut und als nichts erkannt haben. Mit andern Worten, wir befreien uns vom Irrtum, wenn wir uns von dem Glauben befreien, daß der Irrtum etwas Wirkliches sei. So „geht eine Kenntnis des Irrtums und seiner Machenschaften dem Verständnis der Wahrheit, welches Irrtum zerstört, voraus”.
