Es war einmal einer, der sich nicht entmutigen ließ. Eins nach dem andern in seinen menschlichen Angelegenheiten „ging schief”, wie man zu sagen Pflegt. Ein Unheil nach dem andern kam über ihn, anscheinend zu Unrecht und ohne sein Verschulden. Aber bei allem, was geschah, bewahrte er seinen Gleichmut. Ja, er handhabte jedes scheinbare Mißgeschick in einer Weise, daß es ihm tatsächlich gelang, es nicht nur für sich, sondern für alle, mit denen er verkehrte, in einen Segen zu verwandeln. Er hatte offenbar einen unerschütterlichen Glauben an den schließlichen Sieg des Rechts, dieser hebräische Knabe Joseph vor alters, den die zwingende Hand der Liebe vom Hüten der Schafe seines Vaters wegnahm, um ihn zum größten Einfluß für das Gute in dem damals mächtigsten Reiche der Welt zu machen. So schlimm der Zustand auch wurde, er klagte offenbar nicht. So hoffnungslos die Lage auch scheinen mochte, er ließ den Mut nicht sinken. Er vertraute einfach Gott und tat sein Bestes.
Es ist eine herrliche Geschichte, die für den Christlichen Wissenschafter von heute überaus beachtenswert ist. Denn sie zeigt, wie jeder widrige Umstand, recht gehandhabt, zu einer neuen Gelegenheit werden kann, die Wahrheit der Bibelstelle zu beweisen, daß „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen”. Warfen ihn seine von Neid und Eifersucht entbrannten Brüder in der Wüste in eine Grube? Alles diente zum Besten. Denn er wurde sofort an Handelsleute verkauft und nach Ägypten gebracht, was ihn seinem großen Lebenswerk nur umso näher brachte. Zwar war er dort nur ein Sklave; aber das entmutigte ihn nicht. Alles diente immer noch zum Besten, und er ging still seiner Arbeit nach und tat sein Bestes. Die plötzliche Versetzung von seinem einfachen Heim im Lande Kanaan in das Haus des reichen Ägypters Potiphar brachte ihn nicht aus der Fassung, beraubte ihn nicht seines Gleichmuts. Er erfüllte seine Pflichten im Haushalt seines Meisters ungeachtet der Tatsache, daß er ein Gefangener in einem fremden Lande war, und unberührt von dem groben Materialismus seiner Umgebung.
Dieselbe treue Absicht, dasselbe rechtschaffene Denken und Verhalten, das so den Haß und den Neid seiner Brüder geweckt hatte, brachte noch einmal den fleischlichen Sinn auf, und das unpersönliche Böse fand einen neuen Kanal, durch den es hoffte, ihn stürzen zu können. Auf eine falsche Anklage hin wurde er ins Gefängnis geworfen. Es ist jedoch nicht berichtet, daß er sich dem Selbstbedauern, der Selbstgerechtigkeit, dem Groll oder bitterer Verdammung hingab, auch brachte er, so viel wir wissen, keine kostbare Zeit damit zu, daß er sein Los bejammerte. Er glaubte unbeirrt an seinen Gott und hoffte, daß alle Dinge immer noch zum Besten dienen. Schien es dem menschlichen Sinn, daß seine Nützlichkeit zu Ende, seine Arbeit ihm weggenommen war? Dem war nicht so. Die Arbeit, die er getan hatte, war ihm zweifellos weggenommen worden; aber das bedeutete nur, daß eine neue Arbeit gerade begann. Wenn er auch die großen Dinge, die er für seinen Meister so treu und gut getan hatte, nicht mehr tun konnte, so konnte er immer noch kleine Dinge für seine Mitgefangenen tun, und zwar genau so treu und genau so gut. Vielleicht hatte er schon verstehen gelernt, daß es weniger auf das Maß getaner Arbeit als darauf ankommt, in welchem Geist sie getan wird.
Wir wissen ferner, wie er schließlich von einem, gegen den er im Gefängnis als Freund gehandelt hatte, geholt wurde, um dem großen Pharao einen Traum auszulegen, was dem König so gut gefiel, daß er in Freiheit gesetzt und in ein Amt eingesetzt wurde, in dem er durch seine Weisheit und seine Klugheit zahllose Tausende, darunter seinen eigenen Vater und seine verräterischen Brüder, vom Hunger oder vom Hungertod erretten konnte. Und wie gnädig er seinen Brüdern vergab und ihnen zeigte, daß alle Dinge, sogar die finstersten Stunden unseres Lebens in Gottes Hand sind! Es war ein vollkommener Plan auszuarbeiten, wovon er und sie nur ein Teil waren. „Und nun bekümmert euch nicht”, sagte er gütig zu ihnen, „und denkt nicht, daß ich darum zürne, daß ihr mich hieher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch her gesandt. ... Und nun, ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott”.
Wir tun heute gut daran, diese Worte: „Ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott” inmitten scheinbarer Not zu wiederholen und so die ewige Wahrheit zu bestätigen, daß des Menschen Wut Ihn preisen wird! Denn wir haben manchmal das Gefühl, als ob Joseph nicht der einzige war, der als hilfloses Opfer des Neids, der Rache, des Verrats und der Grausamkeit „nach Ägypten” verkauft wurde. Dennoch sagt uns unsere geliebte Führerin Mary Baker Eddy, daß „alles, was Neid, Haß, Rache—die unbarmherzigsten Beweggründe, die das sterbliche Gemüt regieren—zu tun versuchen, ‚denen, die Gott lieben, zum Besten dienen‘” (Miscellaneous Writings, S. 10). Jede Stufe der menschlichen Erfahrung Josephs erwies sich als wesentlich für seinen nächsten Schritt vorwärts, und alle ohne Ausnahme zielten auf geistigen Fortschritt hin, obgleich sie im Augenblick genau das Gegenteil zu sein schienen. Wäre er nicht in die Grube geworfen worden, so würde er aller Wahrscheinlichkeit nach nie nach Ägypten gekommen sein. Wäre er nicht nach Ägypten gekommen, so würde er nicht in Pothiphars Haus gewohnt und dort den Unwillen eines Familienglieds auf sich gezogen haben. Ohne diesen Unwillen würde er nicht in Ungnade ins Gefängnis geworfen worden sein; und wenn er nicht ins Gefängnis geworfen worden wäre, hätte er dort nicht einen Mitgefangenen kennen gelernt, der später, in Freiheit gesetzt und wieder in Gunst, an Joseph dachte und die unmittelbare Ursache war, daß Joseph vor Pharao gebracht wurde. Wäre Pharao nicht so auf ihn aufmerksam geworden, so würde er keine Gelegenheit gehabt haben zu zeigen, daß seine Weisheit diejenige aller Sterndeuter und Wahrsager des Königs so weit übertraf, daß er in das höchste Amt eingesetzt wurde. Und hätte er die mit diesem hohen Amt verbundene Macht nicht gehabt, so hätte er nicht in der Lage sein können, eine Verordnung zu erlassen, wodurch nicht nur Ägypten, sondern auch anderen Ländern eine siebenjährige Hungersnot erspart blieb, noch hätte er sich mit seinen Brüdern aussöhnen können.
Wie ein fortlaufender goldener Faden zieht sich die Allmacht des Guten durch das ganze Gewebe seiner verschiedenen Erfahrungen hindurch und verbindet die verschiedenen Teile miteinander zu einem vollständigen Ganzen. Der Dichter Browning erkannte diesen göttlichen ununterbrochenen Zusammenhang, als er schrieb: „Auf der Erde die Bogenbruchstücke; im Himmel ein vollkommener Kreis”.
Das begrenzte Feld des menschlichen Blicks kann nur „die Bogenbruchstücke” des Kreises, sozusagen die Bogenteilchen, die Stücke, die einzelnen Teile des ganzen Plans, „des vollkommenen Kreises” sehen. Wenn wir aber besser sehen lernen, wie Gott sieht, erkennen wir, daß jeder einzelne Teil nötig war zu bekunden, was eine feststehende Tatsache im Gemüt war, schon ehe die Morgensterne miteinander lobten.
Manchmal hört man sagen: „Warum kommt aber doch das alles über mich? Warum habe ich so viele Schwierigkeiten, wenn ich doch so ernstlich versuche, recht zu tun?” Joseph versuchte auch, recht zu tun; dennoch bewahrte es ihn nicht vor der Grube und dem Gefängnis. Daniel suchte recht zu tun; dennoch mußte er in die Löwengrube gehen. Dies waren nur neue Gelegenheiten zu beweisen, worauf sie vertrauten, ob auf die Allmacht des Guten oder auf die prahlerische Scheinmacht des Bösen. Man kann ruhig sagen, daß es heute kaum jemand in der Welt gibt, der nicht zuweilen das Gefühl hat, daß er etwas zu vergeben habe. Vielleicht schwebt ihm, so sehr er auch dagegen kämpfen mag, immer wieder ein gewisses Gesicht vor, oder drängen sich gewisse Umstände, die er gern vergessen möchte, in seine Harmonie ein. In solchem Falle kann er Ermutigung finden, wenn er über die Geschichte dieses Mannes des Altertums nachdenkt, der Mißgeschick so willig ertrug und selbst unter dem größten Druck der Umstände so vollständig auf Gott vertraute, daß die Verwunderung darüber und die Inspiration davon durch alle diese altersgrauen Jahrhunderte hindurch zu uns gekommen sind.
Unangenehme und ungerechte und schwierige Erfahrungen bleiben uns allen nicht erspart, und sie lassen sich leicht erklären, weil wir als Christliche Wissenschafter beständig gegen den Strom des volkstümlichen Denkens gehen; und wenn einer sein Boot stromaufwärts, gegen den Strom, rudert, begegnet er mehr Hindernissen und kommt langsamer vorwärts, als einer, der müßig stromabwärts treibt. Aber mit der allgemeinen Meinung und mit überlieferter Gewohnheit treiben, heißt nicht wachsen. Laßt uns lieber mit dem Apostel sagen: „Ich achte keines dieser Dinge”. Nicht eines dieser Dinge sollte unser Vertrauen auf Gott und in Seinen vollkommenen Plan erschüttern, den wir vorläufig nur schwach erkennen mögen, in den wir aber alle hineingehören. Wir müssen Ihm bei diesen „Bogenbruchstücken”, diesen scheinbar zusammenhangslosen Ereignissen der täglichen Erfahrung vertrauen und erkennen, daß alle Dinge zum Besten dienen, selbst wenn wir in die tiefste Grube der Verlassenheit, der Furcht und der Verzweiflung geworfen zu werden scheinen. Die Liebe läßt uns nie trostlos, und schon mag eine freundliche Hand, die wir noch nicht sehen, in der Finsternis nach uns greifen. Glauben manche von uns, wir seien schon Sklaven falscher Umgebung, der Materialität unterworfen, in der erstickenden Atmosphäre von Umgebungen, die geistigem Wachstum und geistiger Entwicklung nicht förderlich sind, in einem wahren Gefängnis der Begrenzung, durchkreuzten Bemühens, der Entmutigung und der Vereitelung? Dies bietet uns nur neue Gelegenheiten zu beweisen, daß Gott das All in allem ist; mehr zu vertrauen, mehr zu vergeben, den vollkommenen Menschen zu sehen, wo das Sinnenzeugnis einen unvollkommenen Sterblichen sieht; die Unpersönlichkeit des Bösen zu behaupten und uns zu fragen (Miscellaneous Writings von Mary Baker Eddy, S. 130): „Verstehen wir schon, wieviel besser es ist, daß einem unrecht geschieht, als daß man unrecht tut?” Dann laßt uns Gott preisen für diese Lehren in Geduld, Demut, unbelohntem Dienst, nicht geschätzter Anstrengung, enttäuschter Hoffnung, Vergebung, Nächstenliebe, selbstloser Liebe! Der leidende Sinn kann nur den gegenwärtigen Augenblick mit seinen aus dem materiellen, endlichen Zeugnis gezogenen falschen Schlüssen sehen. Laßt uns aber immer daran denken, daß „das, was materieller Sinn genannt wird, nur über einen sterblichen zeitlichen Sinn der Dinge berichten kann, während der geistige Sinn allein für die Wahrheit Zeugnis ablegen kann” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 298)!
„Du Elende, über die alle Wetter gehen, und du Trostlose”, wische die vergeblichen, nutzlosen, unwürdigen Tränen ab und blicke auf! Erhebe dein Denken über „des Menschen Unmenschlichkeit gegen den Menschen”, um mehr zu erkennen von des lieben Vaters großer allumfassender Liebe und Seiner Sorge für alles, für die Blumen, die Sterne, die Vögel, die schlafenden Lämmlein, die in der Aprilsonne sich entfaltenden Knospen! Würde Seine Liebe dies alles in zärtlichster Fürsorge entfalten, aber dich, Sein liebes Kind, vergessen? Die Stunde wird sicher kommen, wo du auf diese gegenwärtige Erfahrung, die jetzt so hart und grausam und ungerecht scheint, zurückblicken und erkennen wirst, daß sie wirklich ein verkleideter Segen war, indem sie dich zwang, deinen Verlaß auf menschliche Hilfe aufzugeben und dich rückhaltloser an Gott als die höchste Macht, den einen großen Alles-in-allem, zu wenden. Du wirst schließlich erkennen, daß du den höheren Gesichtspunkt, auf dem du heute stehst, hättest wohl nicht so schnell erreichen können, wenn die Erfahrung nicht gekommen wäre. Und wenn du darauf zurückblickst und siehst, wieviel sie dich gelehrt hat, und wie weit du durch sie auf dem himmlischen Wege gekommen bist, wird dein Herz im stillen vor Freude singen, und du wirst wie zu jemand, der ganz nahe bei dir ist, flüstern: „Vater, ich danke dir”.