Das Selbst, das die Menschen gewöhnlich als ihr Selbst ansehen, und das sie zu erkennen glauben, ist in Wirklichkeit nicht erkennbar. Sie geben zu, daß sie nie ganz sicher sind, was es tun wird, wohin es gehen wird, was ihm geschehen wird. Seine Gedanken und Gefühle sind oft ein Rätsel. Seine Gesundheit oder Mangel daran wird angenommen, aber nicht verstanden. Es kann heute hier sein und morgen weiß nicht wo; sein Ausblick kann sich verschoben haben, seine Urteile können sich geändert haben, seine Aussichten können umgekehrt worden sein; seine ganze Welt kann in einem Augenblick besser oder schlechter werden.
Über dieses sterbliche Selbst, das die Menschen gelehrt worden sind, als ihr Selbst anzusehen, läßt sich daher weder im Denken noch in der Geschichte etwas vorhersagen. Über seine Vergangenheit oder Gegenwart mögen sie glauben, etwas zu wissen; über seine Zukunft prophezeien und planen sie, aber ohne Gewißheit. Über den sterblichen Menschen ist nur das Ungewisse gewiß. In den Sprüchen lesen wir: „Jedermanns Gänge kommen vom Herrn. Welcher Mensch versteht seinen Weg?”
In der Christlichen Wissenschaft lernen wir, daß der einzelne seinen Weg und die Rolle, die er darauf zu spielen hat, erst zu verstehen beginnt, wenn er weiß, wer Gott ist und daher, wer er selber wirklich ist.
Auf Seite 86 in „Rückblick und Einblick” zitiert Mrs. Eddy den alten Spruch: „Erkenne dich selbst!” und fährt dann, wie es sonst niemand je getan hat, mit tiefer Weisheit und Liebe fort, den Menschen zu zeigen, wie sie das Gute erkennen können, wie sie — sagen wir nicht, vergessen können, was sie vom Bösen erkannt haben, denn es ist ja nie erkannt worden, sondern wie sie es zergliedern und dann verwerfen können, so daß das allein Erkennbare bleibt.
„Beachte wohl die Falschheit dieses sterblichen Selbst!”, schreibt Mrs. Eddy (Rückblick und Einblick, S. 86). „Betrachte sein abstoßendes Äußere und gedenke des armseligen ‚Fremdlings, der in deinen Toren ist‘”. Nicht wir, wohlgemerkt, sind dieses sterbliche Selbst, das wir angenommen haben, sondern ein „armseliger ‚Fremdling‘” ist es. Ein Fremder allem, was der geistige Sinn wahrnimmt, liebt, erstrebt, ist dieses sterbliche Selbst mit seinen Befürchtungen und Schwächen, seinem falschen ehrgeizigen Streben, seiner Annahme des Bösen als wirklich, des Guten als ungewiß und des Todes als unvermeidlich.
Trotzdem ist diese Falschheit, diese Armseligkeit nicht außer acht zu lassen. Im Gegenteil, sie ist wohl zu beachten, im Auge und im Gedächtnis zu behalten, bis sie durch die Wirklichkeit ersetzt ist. An diesem sterblichen Selbst muß gearbeitet werden, und nur wer sich als geistig erkennt, kann diese Arbeit tun. Mit dem Augenblick, wo er sich selbst erkennen lernt, hat diese Arbeit begonnen, und Mrs. Eddy sagt uns in ihrem nächsten Satz, was sie ist. Sie schreibt: „Entferne jeden Flecken von dem beschmutzten Gewand dieses Wanderers, wische ihm den Staub von den Füßen und die Tränen aus den Augen, auf daß du den wirklichen Menschen, den Mitheiligen eines heiligen Haushalts, sehen mögest”.
Nicht mit Strenge, Verdammung oder Tadel ist dieser armselige Fremdling zu betrachten, sondern mit der Einsicht, die seine Falschheit wahrnimmt und dann beweist. Durch alle ihre Schriften hindurch zeigt unsere Führerin, dem Beispiel Christi Jesu folgend, die Haltung des Denkens, die diesem sterblichen Selbst gegenüber eingenommen werden muß, damit in ihrer vollendeten Verwerfung die lügende Fälschung verschwinden und der wirkliche Mensch ihren Platz einnehmen kann.
Heute gibt es keine Entschuldigung mehr dafür, daß man an Stelle der Falschheit, der Armseligkeit nicht das sieht, was allein wirklich ist, was allein zum Haushalt Gottes gehört; denn in der Christlichen Wissenschaft ist es uns enthüllt.
Wenn wir den wahren, unsterblichen, reinen, wohlhabenden Menschen der Schöpfung Gottes erkennen lernen, beginnen wir die christliche Arbeit zu tun, die von uns gefordert wird. Sie muß zuerst in individueller Wiedergeburt getan werden, damit wir die Warnung unserer Führerin in dem erörterten Abschnitt beachten; denn sie schreibt: „Das Wappenschild unserer Christlichkeit muß unbefleckt sein, wenn wir unsere Gabe auf dem Altar darbringen”.
In Wachsamkeit, in Mut, den das Prinzip von uns fordert, uns als geistig erkennend, von den Gesetzen regiert, die der Geist allein verkündigt und aufrechterhält, werden wir uns weigern, uns mit Krankheit und Sünde, mit Armseligkeit und Feigheit wesenseins zu erklären. Wir werden uns ganz von diesem der Wahrheit Fremden trennen lernen, der uns manchmal sagt, wir seien krank, sündig, traurig, müde, schlecht behandelt. Und als Ergebnis geistigen Erkennens wird in zunehmendem Maße der Mensch erscheinen, den Gott mit Gesundheit und Freude, mit der Gewißheit alles Guten ausgestattet hat. In dieser geistigen Erkenntnis sind die Gewänder nicht mehr befleckt, sammelt sich kein Staub an, nimmt Fröhlichkeit den Platz der Tränen ein. So verschwinden aller Mißklang und alle Entfremdung in der bewußten Einheit einer Brüderschaft, deren Prinzip die Liebe ist.
Wie oft haben Menschen in liebevollem Erbarmen und hingebender Arbeit den, Fremden zu helfen gesucht, indem sie ihn in seinem Glauben, daß er wirklich sei, stützten, bewahrten, aufbauten! Wer aber gelernt hat, sich selbst und alle anderen als geistig zu erkennen, wird mehr als dies tun. Eine Reinigung wird stattfinden, getrübte Augen werden geklärt, staubige Füße gewaschen werden, aber nur für einen Zweck — nicht um das sterbliche Selbst zu ermutigen, ihm zu frönen, sondern um es als falsch aufzudecken und dann zu verwerfen. Wir haben immer nur einen Beweggrund: die endgültige und vollständige Verwerfung dessen, was, an Sterblichkeit glaubend, ein Fremder im Haushalte Gottes ist. Und dies muß, wie unsere Führerin uns sagt, mit Geduld, Erbarmen und Dienst, für uns und für andere, geschehen.
Zu allen Zeiten sind die Worte des Apostels Paulus: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung” anwendbar. In dieser Erfüllung wird das Selbst enthüllt, das erkennt, wie es erkannt wird, und das Gebot, uns selbst zu erkennen, wird in seiner ganzen geistigen Bedeutung verstanden.
