Verlassenheit ist eine unglückliche Annahme des sterblichen Gemüts. Einsamkeit dagegen kann eine herrliche Erfahrung sein. Wo Verlassenheit zu einem Gefühl der Verwirrung und Vereitelung führen kann, kann Einsamkeit Ruhe und Stärke zur Folge haben. Im Gegensatz zu der selbstsüchtigen Verlassenheit kann Einsamkeit, recht betrachtet, ein lebendiger, positiver Zustand werden, in dem man für göttliche Ideen empfänglich ist. Dem Gefühl der Verlassenheit frönen, gibt Mangel und innere Leere zu, während wahre Befriedigung und geistige Nahrung in einer von der Seele erfüllten Einsamkeit gefunden werden können.
Zu allen Zeiten ist die göttliche Idee denen geoffenbart worden, die Ganzheit oder Einheit mit Gott im Alleinsein mit Ihm gesucht haben. Im 12. Kapitel der Offenbarung des Johannes ist die Flucht des Weibes in die Wüste beschrieben: „Und es wurden dem Weibe zwei Flügel gegeben wie eines großen Adlers, daß sie in die Wüste flöge an ihren Ort, da sie ernährt würde eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit vor dem Angesicht der Schlange”. Auf Seite 533 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” spricht Mary Baker Eddy von dem körperlichen Sinn als der Schlange, und auf Seite 597 in demselben Buch lautet ein Teil ihrer Definition für „Wüste”: „Verlassenheit; Zweifel; Finsternis” und: „der Vorhof, in welchem der materielle Sinn der Dinge verschwindet, und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Daseins zur Entfaltung bringt”.
Ob einer einmal oder oft oder einen kurzen Augenblick inspiriert wird, immer wird er genährt und gestärkt, wenn er sich über den körperlichen Sinn erhebt. Die Kinder Israel waren 40 Jahre in der Wüste, Christus Jesus war 40 Tage in der Wüste und drei Tage im Grabe. Oft ging er während seines kurzen Wirkens allein in die Wüste, um zu beten. Und in Wissenschaft und Gesundheit lesen wir (S. 44): „Das einsame Bereich der Gruft gewährte Jesus eine Zuflucht vor seinen Feinden, eine Stätte, wo er das große Problem des Seins lösen könnte”.
Wir sollten dankbar sein, daß unsere Führerin nicht die Schlange des körperlichen Sinnes den göttlichen Begriff verschlingen ließ, als die geistige Idee Mensch über ihrem empfänglichen Bewußtsein dämmerte. Ihr wurden in der Tat starke Hoffnungs- und Glaubensschwingen gegeben, um sich über Körperlichkeit zu erheben und die Nahrung geistiger Inspiration zu empfangen, bis sie die ihr vom Himmel gewordene Offenbarung der Christlichen Wissenschaft klar und furchtlos mit der Menschheit teilen konnte. Sie wählte die Einsamkeit und zog sich von der Gesellschaft zurück, damit sie, durch lange Stunden bewußten Einsseins mit der göttlichen Quelle, Gott, gestärkt und ermutigt, den Weg des Lebens erforschen und andere darauf führen konnte. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 109) schreibt sie über diese Zeit der Einsamkeit: „Nach meiner Entdeckung suchte ich drei Jahre lang nach der Lösung dieses Problems des Gemüts-Heilens, forschte in der Heiligen Schrift, las wenig anderes, hielt mich von der Gesellschaft fern und widmete Zeit und Energie der Entdeckung einer positiven Regel. Das Forschen war lieblich, ruhevoll und von Hoffnung getragen, weder selbstisch noch niederdrückend”.
Für die geistig Wachsamen ist Alleinsein Gelegenheit — Gelegenheit, Gott und das echte Selbst, das mit Ihm eins ist, zu finden. Geistig betrachtet sind Wüstenerfahrungen Gelegenheiten, das Denken von seinem Materialismus zu befreien, damit es von der Immergegenwart des Geistes erfüllt werden kann. So wird die Wüste zu einem fortschrittlichen Zustand, in dem das Aufgeben der Freuden und Schmerzen des körperlichen Sinnes „die großen Tatsachen des Seins” durch den geistigen Sinn „zur Entfaltung bringt” und der Mensch nie allein, sondern immer eins mit seinem himmlischen Vater erfunden wird.
Eine Christliche Wissenschafterin litt an großer mentaler Bedrückung und Freudlosigkeit, die zu überwinden sie sich mehrere Wochen erfolglos bemühte. Schließlich erkannte sie, daß dieser unharmonische Zustand eine Annahme des Verlassenseins war, daß sie sich unsäglich nach ihrer Mutter sehnte, die in einem andern Teil des Landes wohnte, und von der sie zum erstenmal getrennt war. Als der Irrtum aufgedeckt war, dachte sie, sie werde ihrer Mutter eine Eisenbahnfahrkarte schicken, damit sie einige Wochen zu ihr auf Besuch kommen könne. Aber sie übersah, daß dies gerade das war, was der körperliche Sinn von ihr getan haben wollte. Nach einer Mittwochabend-Zeugnisversammlung ging sie in ihr Zimmer, um geistig zu arbeiten und sich in die Christliche Wissenschaft zu vertiefen. Plötzlich kam ihr der Gedanke: Du bist verlassen. Um deine Verlassenheit zu verbannen, willst du jemand kommen lassen. Wenn du es tätest, würdest du gerade so ein materielles Heilmittel gebrauchen, wie wenn du krank wärst.
Sofort erkannte sie den Plan, ihre Mutter kommen zu lassen, als eine Versuchung des persönlichen Sinnes, seinen Ansprüchen zu frönen —Gottes Fähigkeit, sie zu heilen, und ihre eigene Vollständigkeit als Gottes Idee zu verneinen. Die Annahme Verlassenheit war augenblicklich und vollständig geheilt, und diese Erfahrung erwies sich als fester Schrittstein in einer schönen Heilung von Kummer, als das sterbliche Gemüt sie später mit der Einflüsterung versuchte, daß der Tod dauernd trennen könne.
Wenn der Wissenschafter die zersetzende Annahme persönlichen Verlassenseins gegen die erfreuliche Vollständigkeit einer seelenvollen Einsamkeit austauscht, hat er einen notwendigen Punkt in der Christlichen Wissenschaft gewonnen. Einsamkeit, Alleinsein mit Gott, ist ein Erfordernis des geistigen Wachstums. Durch hingebendes Forschen in der Christlichen Wissenschaft finden ihre Anhänger, daß des Menschen Einheit mit Gott eine beweisbare Tatsache ist. Sie lernen sich geistige Ideen zu Gefährten machen und Gott als den einen vollkommenen Freund erkennen. Eine solche freudeinspirierende Kameradschaft läßt weder Zeit noch Raum für Niedergedrücktheit, ob einer allein oder in einer Volksmenge ist; auch macht sie ihn nicht zu einem Einsiedler, sondern führt ihn auf Wege liebevollen Dienens für die Menschheit.
Wer Zeit und Freiheit zu angemessenem Forschen und Nachdenken fordert, kann oft auf ungerechten Tadel vom nutzlosen sterblichen Gemüt stoßen. Viele Vorwände des materiellen Sinnes, viele geschäftliche oder gesellschaftliche Ansprüche oder persönliche Verpflichtungen suchen des Wissenschafters Denken abzulenken und seine Zeit und Mühe zu vergeuden. Er kann selbstsüchtig und des Mitgefühls ermangelnd genannt werden; aber das falsche Urteil Sterblicher wird ihn nicht abschrecken. Der Christliche Wissenschafter, der Fortschritt machen will, muß sich entschlossen von den Bräuchen und Ansprüchen des körperlichen Sinnes, mit denen er sich nie befreunden kann, zum gläubigen Nachdenken über den Geist und die göttliche Schöpfung wenden. Dann wird er sich nie verlassen fühlen; denn groß ist die Zahl göttlicher Gedanken, die in der Einsamkeit knospen, um im Beweis zu erblühen.