Für den Weltfrieden ist wohl kaum etwas so wichtig, als daß jene seltene Tugend, Vergebung, geübt wird. Was dazu erforderlich ist, betrifft die Menschen im tiefsten Innern. Ein gewissenhaftes Beweisen christlicher Langmut und Vergebung ist unerläßlich, um die drohenden Gefahren noch größerer verheerender Umwälzungen zu vermeiden.
Wie sonderbar, daß die Menschen nach Frieden streben, während sie innerlich Feindschaft gegen andere hegen! Wie Nächstenliebe muß auch der Friede im eigenen Bewußtsein beginnen, ehe er in denen, die im Unfrieden sind, einen Widerhall finden kann. Scheint das Vergeben nicht deshalb schwer, weil wir nicht daran denken, daß sowohl unser als auch unseres Bruders wahres Selbst eins mit Gott ist? Die Empfindlichkeit wird durch die sterbliche Annahme von Leben in der Materie gereizt und verletzt, und man kann nur durch den heiligen Einfluß der unparteiischen Liebe Gottes zu allen Seinen Kindern über Gereiztheit und Gekränktsein Herr werden. Der Dichter Pope sagt: „Irren ist menschlich; Vergeben ist göttlich.“ Die ewige Einheit Gottes, des Geistes, und Seines Ebenbildes, des geistigen Menschen, verbürgt Vergebung unter allen Umständen, wenn man bei Gott Hilfe sucht und Seinen Geboten gehorcht.
Die Welt mag eine versöhnliche Gesinnung als ein Zeichen der Schwäche betrachten; aber man kann ein großes Unrecht nie ohne aufrichtiges Gebet und unbedingten Verlaß auf die göttliche Weisheit und Liebe vergeben. Wer den Gedanken an das Selbst überwunden hat, wenn Stolz, Ungerechtigkeit und Empörung über ein zugefügtes Unrecht Wiedervergeltung zu fordern suchten, kann bezeugen, daß er sehr an Charakterstärke gewachsen ist. Um Gott gehorsam zu sein, muß man den menschlichen Willen vollständig unterordnen. Und das Verständnis Gottes und Seines vollkommenen Gerechtigkeits- und Barmherzigkeitsgesetzes enthüllt unumgänglich, daß ein Unrecht, weil es nicht recht ist, nicht wirklich ist. Wenn man dies erkennt, folgt Vergebung ganz natürlich.
Alle Christen beten (Matth. 6, 12): „Vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben“, und unser Meister machte klar, daß wir einander nicht siebenmal, sondern „siebzigmal siebenmal“ vergeben müssen. Jesu ganzes Leben war lauter Vergebung und Dienstleistung. Er heilte alle, die zu ihm kamen, ohne Rücksicht auf Rasse, Klasse oder Stellung. Trotz der beharrlichen Anstrengungen seiner Feinde, ihn in eine Streitfrage zu verwickeln und ihn anzustacheln, ihre falschen Anklagen mit ärgerlichen Gegenklagen zu erwidern, konnte er seine Rechtschaffenheit und sein Wohlwollen gegen sie bewahren. Damit war das Böse entwaffnet, so daß seine Anstrengungen erfolglos blieben.
Das Wesen und die Beschaffenheit der Lehren der Christlichen Wissenschaft sind in einer herrlichen Stelle von Mary Baker Eddy in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 veranschaulicht. Sie schreibt dort (S. 19): „Der Christliche Wissenschafter hegt keinen Groll; er weiß, daß ihm dies mehr schaden würde als alle bösen Absichten seiner Feinde. Brüder, vergebt, wie Jesus vergab. Ich sage mit Freuden: niemand kann mir ein Unrecht zufügen, das ich nicht vergeben kann.“
Persönliche Beleidigungen, Anklagen und tatsächliche Angriffe, die zu Entfremdung, Verbitterung und Gerichtsverfahren führen, können ohne das Verlangen des einen oder des andern nach einer Aussöhnung nie wirklich entschieden werden. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Matth. 5, 38), so geht die Welt vor, weil sie es nicht besser versteht. Aber es entspricht nicht dem wahren Christentum. Wer glaubt, es hebe sein Selbstgefühl, wenn er Gleiches mit Gleichem vergelten kann, hat nichts gewonnen, sondern verloren, da sich sein sterbliches Ich verstärkt anstatt gedemütigt hat. Auf geistigem Verständnis beruhender sittlicher Mut und Liebe sind erforderlich, um jedem Angriff standzuhalten und ihn zu meistern.
Wenn wir mit den durchdringenden Strahlen der Wahrheit tief genug ins Bewußtsein blicken, entdecken wir, daß gewisse Irrtümer wie persönlicher Ehrgeiz, falsche Züge der Veranlagung, unglückliche Neigungen, Volks- oder Rassenmerkmale, die unsern geistigen Fortschritt immer noch ungünstig zu beeinflussen geltend machen, nicht auf göttliche Weise vergeben worden sind. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ erklärt Mrs. Eddy als Teil des dritten Glaubenssatzes der Christlichen Wissenschaft (S. 497): „Wir bekennen Gottes Vergebung der Sünde in der Zerstörung der Sünde und in dem geistigen Verständnis, welches das Böse als unwirklich austreibt.“
Die ewige Tatsache der Allgegenwart Gottes schließt das Vorhandensein von Bösem oder Irrtum aus und ist dadurch die Grundlage seiner völligen Zerstörung. Sich diese Wahrheit vergegenwärtigen ist wahres Vergeben. Wenn man die Wahrheit über irgend einen störenden Zustand erkennt, ist die Schwierigkeit als Irrtum aufgedeckt, und ihre Selbstzerstörung folgt ganz natürlich. Niemand kann sagen, wie weitreichend ein einziges Vergeben ist. Es genügt zu wissen, daß der Vater aller dafür sorgt.
Wie viel Herzeleid infolge von Mißverständnissen in Familien und unter Freunden ausgesöhnt werden könnte, wenn man sich in genügendem Maße wahrer Demut und selbstloser Liebe bewußt würde und die Führung der göttlichen Liebe suchte! Allen Schwierigkeiten der Menschen liegt das Ich in irgendeiner Form zugrunde. Wenn Eigenliebe vorherrscht, bietet der Irrtum Anlässe, sie zu steigern. Versucht jemand, der sich durch Eigensinn oder unnachgiebiges Festhalten an einer Meinung in einen Streit verwickelt und aufgeregt wird, es nicht oft durch Selbstrechtfertigung zu entschuldigen? Der Irrtum mag vorbringen, daß der Fehler am andern liege, und daß der andere zuerst um Vergebung bitten sollte. Dadurch versäumt man zeitweilig die wertvolle Gelegenheit, Nächstenliebe auszudrücken, und schiebt die schließliche Aussöhnung auf.
Eine Kirchengemeinde erfreute sich eines gewissen Gedeihens, als zwischen zwei Gruppen Mitgliedern Meinungsverschiedenheiten entstanden. Eine Gruppe schien von jemand beherrscht zu werden, der eine stark ausgeprägte und einflußreiche Persönlichkeit zur Schau trug. Der Streit war dadurch entstanden, daß diese Person versuchte, den Soloisten wegzubringen, sowie durch anderweitiges Vorgehen, das gegen die Kirchensatzungen verstieß. Die angegriffene Person und andere gingen in einer Weise vor, die sie als Gehorsam gegen eine bestimmte Satzung betrachteten, und die ein gewisses Handeln erforderte. Dieser Schritt verursachte eine noch größere Kluft zwischen den Gruppen und viel persönlichen Streit. An einem Wendepunkt erkannten diejenigen, die die Vorschriften der Satzungen auszuführen glaubten, daß mehr Weisheit angewandt werden mußte, wenn die Lage geheilt werden sollte. Sie holten sich daher bei einem hingebungsvollen, erfahrenen Christlichen Wissenschafter Rat. Er hörte zu, was über den Fall berichtet wurde, und sagte dann: „Gott hat viele Möglichkeiten, wie diese Dinge sich auswirken können; denken Sie nicht, daß es nur auf Ihre Art geschehen kann. Lieben Sie mehr.“
Sie nahmen demütig und dankbar diese Zurechtweisung hin und begannen, gegen die anderen Mitglieder mehr Nächstenliebe auszudrücken. Bald änderte sich die ganze Lage, und nach kurzer Zeit war sie ganz geheilt. Der Soloist blieb und wurde dann als Leser gewählt. Später war es ihm vergönnt, während der Ferien eines Lesers mit der Person zu lesen, die ihn zu entfernen gesucht hatte. Von jener Zeit an machte die Kirche größeren Fortschritt als zuvor, und sie ist als eine einige Gruppe ernster Arbeiter in der Christlichen Wissenschaft weiter gewachsen.
Wenn wir betrachten, wie die Menschen überall in der Welt danach ringen, frei zu sein, können wir sehen, wie ungemein nötig es ist, das heilende und erlösende Wirken unseres Meisters zu verstehen. Seine christliche Bestimmung ist in den erbarmungsvollen Worten ausgedrückt (Joh. 3, 17): „Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.“ Unzählige Menschen in vielen Ländern sind im Denken und leiblich und geistig verarmt infolge einer ihnen durch falsche Regierungsformen auferlegten Gewaltherrschaft, — Regierungsformen, die unter der Herrschaft ehrgeiziger und habgieriger Machthaber standen, die sich als Wohltäter der Menschen ausgaben. Wir, die das unschätzbare Verständnis der befreienden Macht der Christlichen Wissenschaft haben, dürfen nicht versäumen, ihrer in unseren Gebeten und in unserer täglichen geistigen Arbeit zu gedenken. Der immer nahe gütige, liebende Christus kann die Bitterkeit in ihrem Herzen heilen durch die Enthüllung des göttlichen Ursprungs und der göttlichen Rechte des Menschen. Dieses Verständnis wird viel mehr wiederherstellen, als sie verloren zu haben scheinen. Der verständnisvoll angewandten Macht der Christlichen Wissenschaft kann keine Grenze gesetzt werden, wenn es sich darum handelt, die Unterdrückten, Bestürzten und Verarmten der Welt zu der Erkenntnis zu erwecken, daß sie als Kinder Gottes herrlich frei sind und ihr unveräußerliches Geburtsrecht der Harmonie und der Herrschaft beweisen können. Schon ein Körnchen Verständnis der Allmacht, Allgegenwart und Allwissenheit Gottes, das man vertrauensvoll zu ihrem Besten anwendet, ist mächtiger als die prahlerische Geltendmachung des Bösen, daß es Macht und Gegenwart habe und sie in Knechtschaft halten könne.
Laßt uns an unseres Meisters selbstloses, heilendes Wirken denken, durch das er seine liebevollen Gebote veranschaulichte: „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht die Kranken gesund.“ „Liebet eure Feinde. ... Vergebet, so wird euch vergeben (Matth. 10, 7. 8; Luk. 6, 35. 37). Diese Gebote bedingen, daß wir im höchsten Maße jene selbstlose Liebe ausdrücken, die alle in einer großen Brüderschaft verbindet.
Die materielle Welt häufte ihre Bosheit, Beschimpfung und Rache in vollem Maße auf Christus Jesus; aber er trat allem mit erhabenem Verständnis und mit Liebe entgegen und meisterte es. Am Kreuze betete er, daß der Vater seinen Feinden vergeben möge. Dieses krönende Handeln erfüllte das ewige Gesetz der göttlichen Liebe. Man denke jedoch nicht, daß Jesus dem Übel gegenüber je eine untätige Haltung einnahm. Auf Grund seiner unbedingten Liebe zu Gott und dem Menschen konnte er die Übelstände, die die Menschen zu seiner Zeit durch eigenmächtige Kirchenlehren, Ausbeutung und unmenschliche Handlungen versklavten, so scharf rügen. Jesus wußte, daß die Begierde, die Habgier und Unterdrückung, die er zurechtwies, weder ihren Ursprung im wirklichen geistigen Menschen, noch irgendwelche Beziehung zu ihm hatten, und daß diejenigen, die von diesen schlimmen Beweggründen beherrscht zu sein schienen, schließlich bereuen und die Wahrheit, die er lehrte und vorlebte, lieben würden.
Unsere Führerin schrieb darüber, daß der Meister über Jerusalem weinte, in ihrer Botschaft anläßlich der Einweihung Der Mutterkirche (Pulpit and Press, S. 7): „O ihr Tränen, ihr seid nicht umsonst geflossen! Jene heiligen Tropfen wurden nur für künftigen Gebrauch aufbewahrt, und Gott hat mit Seinem ausgestreckten Arm jetzt das Siegel von ihrem Aufenthaltsort genommen. Jene kristallenen Tropfen übten einen sittlich veredelnden Einfluß aus. Sie werden in Fluten der Vergebung freudig und machtvoll jedes Verbrechen wegwaschen, selbst wenn es irrigerweise im Namen der Religion begangen wurde.“
Auch unsere Tränen werden nicht vergeblich sein, wenn unser Herz übervoll ist von selbstloser Liebe, Freude und Dankbarkeit für das christliche Verständnis, daß der Vater-Mutter, die Liebe, überall gegenwärtig ist, und jedes Unrecht voll aufwiegt durch die unaussprechliche Freiheit und den Frieden, die jedem reuigen und empfänglichen Herzen zuteil werden.
