Das Streben, im wahren Sinne des Wortes, ist nichts Unrechtes, sondern im Gegenteil eine Tugend. Die Christliche Wissenschaft vernichtet nicht das Streben. Wie mit allem andern, so ist es auch mit dem Streben — die Christliche Wissenschaft vernichtet nur die falsche Auffassung davon und setzt den rechten Begriff an deren Stelle. Das ehrgeizige Streben, das sich auf ein materielles Ziel richtet, ist falsch; das auf ein geistiges Ziel gerichtete Streben ist das rechte.
Wahres Streben ist dem Gebet verwandt. Es ist das Verlangen, das sich so eifrig und intensiv auf das rechte Ziel richtet, daß das Verlangen mit der Erlangung desselben verschmilzt, gestillt in dem Frieden des Verstehens, daß das rechte oder geistige Verlangen niemals unerreichbar ist oder unerreicht bleibt, da seine Erfüllung in der ewigen Wirklichkeit immer gegenwärtig ist.
Die Definition eines Wörterbuches bezieht sich auf diesen rechten Begriff von Streben. Obwohl sie auch mehrere weniger wünschenswerte Bedeutungen des Wortes gibt, so erwähnt sie doch ebenfalls die Tatsache, daß das Streben ein „erhebendes Verlangen zu leisten oder zu erwerben“ ist. Für den Christlichen Wissenschafter ist ein Verlangen, das als „erhebend“ bezeichnet werden kann, wertvoll. Es kann in der Tat als eine Art Gebet betrachtet werden.
Dies wird auch im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ bestätigt, worin Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft erklärt (S. 1): „Verlangen ist Gebet; und kein Verlust kann uns daraus erwachsen, daß wir Gott unsre Wünsche anheimstellen, damit sie gemodelt und geläutert werden möchten, ehe sie in Worten und Taten Gestalt annehmen.“
Es ist zu beachten, daß Mrs. Eddy in der obigen Erklärung das Verlangen nicht modifiziert, obwohl sie klar darlegt, daß die Erfüllung desselben Gott anheimgestellt werden muß. Mit andern Worten, das Verlangen ist nur insofern berechtigt, wie es auf Wirklichkeit und Substanz gerichtet ist, ja, auf echte Werte, nicht auf materielle Begriffe, die stets gleichbedeutend mit Selbsttäuschungen sind und immer früher oder später als solche ausgefunden werden.
In der menschlichen Erfahrung kommt oft diese Frage in verschiedenen Formen auf: Soll ich mich bemühen, dieses Amt zu erlangen? Soll ich mich wohl um jene Stellung bewerben? Soll ich nach Ruhm und Auszeichnung streben? Wenn wir die Frage so formulieren, dann ist die Antwort: „Nein.“ Doch der Umfang dieses „Neins“ schließt nicht das Auslöschen des Verlangens in sich. Rechtes Verlangen wird beschützt und erhalten, wenn die Frage in einer Form gestellt wird, welche die folgende Antwort gestattet und unterstützt; ich will mich zur Bereitschaft für wahre Dienstfertigkeit vorbereiten. Ich will meine gottgegebenen Eigenschaften offenbaren, und Gott wird die Anwendung derselben führen und leiten. Ich will würdig sein, berufen zu werden, und es dieser Würdigkeit überlassen, ihren wohlverdienten Lohn zu ernten.
Menschlich gesprochen braucht die Welt einen jeden, der würdig erfunden werden kann, zu der Lösung der Menschheitsprobleme beizutragen. Die Berufung, diese Wirksamkeit aufzunehmen, erwartet normalerweise einen jeden, der die Fähigkeit offenbart, mit den sich bietenden Problemen erfolgreich zu ringen. Wenn die Berufung nicht gleich kommt, so ist die Lösung nicht etwa, um die Berufung zu bitten, sondern vielmehr unsre Bereitschaft zu erhöhen, so daß wir besser den Anforderungen genügen können, wenn die Berufung kommt, — ja fortzufahren mit den Vorbereitungen erhöhter Leistungsfähigkeit bis zu dem Punkt, wo die Berufung unausbleiblich ist. Denn unausbleiblich wird sie sein und bleiben für den, der wirklich weiß, wie er den Anforderungen, die sie mit sich bringt, genügen kann.
Dies Wissen ist eine geistige Entfaltung, die auf wahrer Selbsterkenntnis begründet ist. Es wird von dem Menschen ausgedrückt, der sich dank des Verstehens seines wahren Ursprungs selbst versteht. Das ist der Grund, weshalb es in Wirklichkeit nur ein Streben und eine Erfüllung dieses Strebens geben kann — der herrliche Grund, weshalb es kein anderes zu geben braucht.
Dieses Streben ist aufrichtig, wenn es darauf gerichtet ist, sich selbst als den von Gott erschaffenen Menschen zu erkennen; und wenn seine Aufrichtigkeit sich in dem ehrlichen Wunsch bezeugt, die Eigenschaften des göttlichen Gemüts gegenwärtig und individuell zu verkörpern, so wird ihm alles andere zufallen. Befriedigende Tätigkeit, freudige Leistungsfähigkeit, uneingeschränkte Herrschaft über das Böse werden die Ausstattung dessen sein, der nur Gott sucht und darnach strebt, der Ausdruck Seines Willens zu sein.
Gott ist das göttliche Gemüt, der unendliche Geist. Der Mensch ist das, was das göttliche Gemüt oder der unendliche Geist schafft oder erzeugt. Der Mensch ist daher eine geistige Idee. Die Idee, die von dem unendlichen Gemüt oder Geist erzeugt wurde, ist eine neue Darstellung oder Widerspiegelung des Erzeugers, das Ebenbild und Gleichnis ihres Ursprungs. Daher spiegelt sie individuell jede Eigenschaft, Kraft und Fähigkeit jenes Ursprungs wider. Sie ist sich des befriedigenden Gefühls der Vollständigkeit der eigenen Individualität bewußt. Geistig verstanden, offenbart diese Vollständigkeit sich in der besonderen Art, in der das Erlangen von etwas Erstrebtem sich ausdrückt.
Laßt uns darnach streben, uns selbst geistig zu erkennen, in dem Bewußtsein der Sohnschaft mit Gott zu verweilen. Die Erreichung dieses erstrebten Ziels wird alles andere mit sich bringen. Doch laßt uns kein ehrgeistiges Streben kennen, das sich in Streit und Eifersucht kundtut, kein Verlangen, das der Enttäuschung und Vereitelung ausgesetzt ist. Mrs. Eddy sagt (Miscellaneous Writings, S. 154): „Gott wartet nur darauf, daß der Mensch dessen würdig werde, um Mittel und Maß Seiner Gnade zu erhöhen.“
Mit dieser Erklärung bestätigt die Führerin der Christlichen Wissenschaft die stets beweisbaren Worte Christi Jesu (Matth. 7:8): „Wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ Und in Übereinstimmung mit ihm hat sie das Verlangen nach dem Guten, mit andern Worten, das wahre Streben, als die Bedingung erklärt, dank deren das unvollkommene Menschentum der Vollkommenheit der Gottheit Raum gibt.
