Als Christus Jesus uns jenes große Gebet gab, das unter dem Namen des Gebets des Herrn oder auch des Vaterunsers bekannt ist, so geschah dies in Erwiderung auf ein Verlangen nach Belehrung seitens eines seiner Jünger. Doch dieser bat den Meister nicht etwa, ihnen eine Gebetsformel zu geben, die sie in mechanischer Weise wiederholen könnten, denn er sagte: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte“ (Luk. 11:1). Die Worte offenbarten einen Wunsch nach besonderer Belehrung in bezug auf das Beten — ein rechtmäßiges Verlangen, dem der Meister auch sogleich entsprach.
Die Bergpredigt, in der wir das Gebet des Herrn ebenfalls finden, ist eine belehrende Predigt oder Ansprache; denn wir lesen als eine Einleitung zu derselben (Matth. 5:2): „Er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach.“ Wir können daher das Vaterunser sowohl als eine Belehrung wie auch als ein Gebet betrachten. Es ist ein Beispiel oder eine Vorlage für ein Gebet; wie aus der Tatsache hervorgeht, daß Jesus nicht auf der genauen Benutzung seiner Worte bestand, denn er sagte (Matth. 6:9): „Darum sollt ihr also beten.“
Als Beispiel oder Vorlage betrachtet, bekommt das Vaterunser eine neue Bedeutung. Es erhebt die Idee des Gebets aus dem Rang des willkürlichen Bittens und weist in geordneter Weise auf die wesentlichen Wahrheiten hin, die wir betrachten und betonen sollten. Es ist beachtenswert, daß das Gebet mit einem Hinweis auf Gott, Sein Reich, Sein Wesen und Seinen Willen, beginnt. Es berührt weiter die Beziehungen des Menschen zu Gott und betont Gottes Vergebung der Sünde in dem Maße, wie die Sünde überwunden wird. Es erwähnt Gottes geistige Leitung, Fürsorge und Beschirmung und erklärt schließlich, daß das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit Gott zugehören. Diese grundlegenden Wahrheiten bilden die wesentlichen Elemente, gewissermaßen den Kern, jenes heilenden Gebetes.
Die Christlichen Wissenschafter glauben an den Wert jener Mahnung des Paulus: „Betet ohne Unterlaß“ (1. Thess. 5:17), und sie befolgen sie, indem sie sich bemühen, sich die Gegenwart und Macht Gottes, des Guten, und den wahren Menschen in Gottes Ebenbild und Gleichnis ständig vor Augen zu halten. Sie entblößen das Böse aller Macht und erkennen die unendliche Liebe Gottes an, die sich in Versorgung und Schutz ausdrückt. Da wir so oft einem Augenschein gegenüberstehen, der Gott so unähnlich ist, und mit menschlichen Wesen, die ein Spottbild des wahren oder idealen Menschen zu sein scheinen, entdecken wir, wie notwendig es ist, beständig zu wachen und zu beten. Wenn wir dem Irrtum irgendwelcher Art erlaubten, sich einzuschleichen, ohne von der Wahrheit herausgefordert zu werden, so würden wir bald finden, daß wir seine Argumente und damit seinen Anspruch auf Wirklichkeit angenommen haben, wenn er doch tatsächlich ein Wahnbild ist.
Das Gebet im Sinne der Christlichen Wissenschaft ist nicht etwa ein mühseliges Wiederholen von Worten und Sätzen, sondern das frohe, spontane Festhalten an der geistigen Wahrheit. Wir freuen uns über die Tatsache, daß der Mensch, das Kind Gottes, der Sprößling des ewigen Lebens und daher unsterblich ist. Wir ruhen friedlich in dem Verständnis, daß der materielle Augenschein von Krankheit und Leiden unwahr ist, da die Existenz nicht materiell sondern geistig ist; denn Gott ist der Geist. Und wie dankbar sind wir, zu wissen, daß Gottes liebevolle Fürsorge den Menschen beständig umfängt; denn Gott ist die Liebe, und des Menschen Untrennbarkeit von der göttlichen Liebe ist eine wesentliche und grundlegende Wahrheit.
Die gewohnheitsmäßige Vergegenwärtigung der Gegenwart und Macht Gottes und der geistigen Natur des Menschen ist ein Beten ohne Unterlaß. Wir können nicht daran zweifeln, daß der Wille Gottes, das Wollen des Guten, ununterbrochen wirksam ist. Es hört niemals auf, zu sein, zu handeln, zu erlösen, zu beschirmen und zu lohnen.
Das Gebet des Herrn, wie es vom Meister gegeben und von Mary Baker Eddy in ihrem Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ geistig ausgelegt wurde, macht diese grundlegenden Wahrheiten klar. Das All-Wirken der Wahrheit, die dem Gebet des Herrn innewohnt, wird von wenigstens einem modernen Bibelübersetzer (Ferrar Fenton) angedeutet, der in einer Fußnote darauf hinweist, daß dieses Gebet in der Befehlsform des griechischen Aoristes geschrieben ist, einer Zeitform, die angeben soll, daß eine Handlung unbedingt und fortwährend notwendig ist. So übersetzt er zum Beispiel „Dein Wille geschehe“ mit: „Dein Wille muß geschehn.“
Es ist natürlich, daß ein Gebet, das solch grundlegende und ewige Wahrheiten enthält, unbedingt die Kranken heilen muß, wenn diese in ihm enthaltenen Wahrheiten als allwirkend erkannt werden. Mrs. Eddy erinnert uns daran, daß mehr als eine bloße Wiederholung der Worte notwendig ist, um eine Heilung zu bewirken, wenn wir das Gebet des Herrn gebrauchen. Sie schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 16): „Nur, wenn wir uns über alle materielle Sinnengebundenheit und Sünde erheben, können wir das vom Himmel stammende Streben und das geistige Bewußtsein erreichen, auf welches in dem Gebet des Herrn hingewiesen wird, und welches die Kranken augenblicklich heilt.“
Unsre geliebte Führerin hat uns nicht nur eine geistig erleuchtete Auslegung des Gebets des Herrn gegeben, sondern sie hat uns gar viele weitere Wahrheiten über das Beten in all ihren inspirierten Schriften offenbart. Christliche Wissenschafter haben daher keine Entschuldigung, über das Thema des Gebets in Unwissenheit zu sein. Diejenigen, die sorgfältig studiert und angewandt haben, was Mrs. Eddy über das Gebet geschrieben hat, sollten niemals der Meinung sein, daß sie nicht genug von der Christlichen Wissenschaft wissen, um eine Behandlung zu geben. Behandlung im Sinne der Christlichen Wissenschaft ist Gebet. Und wenn wir gelernt haben, richtig zu beten, so können wir nicht umhin zu verstehen, wie eine christlich-wissenschaftliche Behandlung gegeben wird.
Wie wir schon weiter oben erwähnten, stellt das Gebet des Herrn gewissermaßen ein Beispiel oder Vorbild dar. Wir beten nicht mehr zu einem unbekannten Gott in einer unbekannten Sprache.
Durch die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft entfaltet sich uns die geistige Bedeutung der Heiligen Schrift, und in Verbindung mit dem Gebet des Herrn lernen wir verstehn, wie notwendig es ist, gewohnheitsmäßig an den grundlegenden Wahrheiten festzuhalten, die dieses Gebet enthält. Mrs. Eddy hat das Gebet des Herrn als ein vereinigendes Band und als einen Kernpunkt bezeichnet. In ihrem Werk „Kanzel und Presse“ (Pulpit and Press, S. 22) schreibt sie: „Alle christlichen Kirchen haben ein vereinigendes Band, einen Kernpunkt oder Konvergenzpunkt, ein Gebet — das Gebet des Herrn. Wir haben allen Grund, uns zu freuen, daß wir in Liebe vereinigt sind und mit allen betenden Versammlungen auf Erden in geistige Gemeinschaft treten mit jener heiligen Bitte: —, Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.‘ “
