Der Evangelist Lukas sagt uns, daß Jesus einmal in einem Dorf, in das er kam, von Martha, der Schwester der Maria und des Lazarus, in ihr Haus aufgenommen wurde. Maria saß zu Jesu Füßen und lauschte seinen Worten, während Martha sich „viel zu schaffen machte, ihm zu dienen“. Nach einer Weile empfand Martha es als ungerecht, daß sie alle Arbeit zu tun hatte und Maria ihr nicht half. Sie wandte sich an den Meister und sagte (Luk. 10, 40): „Herr, fragst du nicht darnach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife!“
Was war der Unterschied zwischen diesen beiden Frauen? Im allgemeinen gilt Maria als die geistiggesinnte und Martha als die weltlichere Persönlichkeit. Manche betrachten Martha vielleicht als die liebevolle, gewissenhafte Gastgeberin und denken, Maria habe zuerst an sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse gedacht. Aber die Antwort, die Jesus auf Marthas anklagende Frage gab, läßt klar erkennen, daß er ihre verschiedene Stellungnahme in einem andern Licht sah. „Martha, Martha“, sagte er, „du hast viel Sorge und Mühe; eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“
Das „gute Teil“, das Maria erwählt hatte, war die Antwort auf der Menschheit Fragen betreffs des Lebens. Jesus war in die Welt gekommen, die geistige Wahrheit zu verkündigen. Dies war geradezu das Wesen seines Seins. Ihn leitete im Leben nicht der Gedanke, bedient zu werden, nur als eine menschliche Person auf der Welt zu sein, sondern auf alle ungelösten Fragen der Menschheit die Antwort zu geben. Mary Baker Eddy schreibt darüber, daß eine endliche Auffassung von Gott nicht befriedigen kann, in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 258): „Eine sterbliche, körperliche endliche Auffassung von Gott kann die Herrlichkeiten des grenzenlosen, unkörperlichen Lebens und der grenzenlosen, unkörperlichen Liebe nicht umfassen. Daher das ungestillte menschliche Sehnen nach etwas Besserem, Höherem, Heiligerem, als die materielle Annahme von einem physischen Gott und einem physischen Menschen zu bieten vermag.“ Jesus brachte Maria die Erfüllung ihres Sehnens nach tieferer geistiger Erkenntnis, und in seiner großen Liebe, die keine vermeintliche Überlegenheit kannte, beantwortete er auch die Fragen der sich abmühenden, sich selbst bedauernden Menschheit — die Martha-Fragen.
Wie liebreich und verständnisvoll sich seine gütige Antwort anhört: „Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe“! Ist dies nicht ein Vorbild für diejenigen, die glauben, das „gute Teil“ gewählt zu haben und sich gegen eine Martha hochmütig benehmen? Unser Erfassen geistiger Wahrheiten kann tatsächlich nicht das „gute Teil“ sein, wenn es nicht von der gütigen Sanftmut und der liebreichen Weisheit des Meisters begleitet ist, dessen tröstende Stimme durch die Jahrhunderte widerhallt und dem armen, irrenden Menschengeschlecht zugesteht: „Du hast viel Sorge und Mühe; eins aber ist not.“
Viele, ja die meisten Bedürfnisse, mit denen die Menschen an Jesus herantraten, waren Martha-Sorgen — Schwierigkeiten vom Standpunkt des materiellen Sinnes. Seine Antwort ging gewöhnlich hoch über das hinaus, was der Fragesteller erwartet hatte; oft war es eine indirekte Antwort, die die Frage anscheinend nicht berührte, weil sie von einem höheren als dem Standpunkt, von dem aus die Frage gestellt war, gegeben wurde. Jesu Antworten ließen seine Zuhörer nur dann unbefriedigt, wenn der Fragesteller die wirkliche geistige Bedeutung einer Antwort noch nicht sehen und sie daher nicht sofort annehmen konnte, wie in dem Falle von dem reichen Jüngling, den Jesus liebte.
Martha nahm Jesu Antwort auf ihre Frage jedoch zu Herzen und lernte dadurch, wie sich später nach dem Tod ihres Bruders Lazarus klar zeigte. Als sie bei jener Gelegenheit Jesus entgegenging, begrüßte sie ihn mit den Worten (Joh. 11, 21. 22): „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben! Aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“ Sie war nicht besorgt und beunruhigt, sondern überzeugt; sie verstand, daß jede Schwierigkeit, die man Jesus vorlegte, überwunden wurde. Wie sehr sie gewachsen war! Versichernd kam die Antwort: „Dein Bruder soll auferstehen.“ Martha war durch ihr höheres Verständnis des wirklichen Seins Jesu — daß er nicht nur ein geehrter Gast, sondern der Messias war — vorbereitet, Lazarus wieder ins Leben zurückgerufen zu sehen. Ist dieser rasche Fortschritt in der Entfaltung des geistigen Sinnes nicht eine Ermutigung für nus alle, wenn Martha-Fragen in unserem Bewußtsein aufsteigen mögen?
Die göttliche Art der Beantwortung dieser Martha-Fragen, die in einem gequälten sterblichen Denken aufsteigen, das blindlings Aufklärung und Erlösung, aber offensichtlich nur eine Lösung für seine schwierigen Fragen sucht, veranschaulicht Mrs. Eddy in dem Kapitel „Fragen und Antworten“ in ihrem Buch „Miscellaneous Writings“. Wir finden dort dasselbe Verfahren, das Jesus gebrauchte, nämlich Antworten, die auf Grund ihrer geistigen Richtigkeit die Fragen von selbst ausscheiden. Ganz selten ist eine Frage bloß als ein Ersuchen um Auskunft behandelt; sie dient vielmehr dazu, den Fragesteller zu einem geistigeren Gesichtspunkt zu erheben.
Wir können die in uns aufsteigenden Fragen auf dieselbe Art dadurch beantworten, daß wir von dem höheren Standpunkt des geistigen Sinnes ausgehen. Dies sollte hauptsächlich dann unsere Haltung sein, wenn die alte Frage nach dem Ursprung des Bösen gestellt wird. Diese Frage ist auf Seite 45 in „Miscellaneous Writings“ auch an Mrs. Eddy gerichtet; aber ihre Antwort auf diese Frage kann wie in jedem Falle unser Fragen nur dann zum Schweigen bringen, wenn wir sehen können, daß die Antwort die Frage ausschaltet.
Weil wir so oft gefragt werden, woher das Böse komme, und die Antwort darauf für ein rechtes Verständnis des Lebens grundlegend ist, lohnt es sich, über die Antwort unserer Führerin ernstlich nachzudenken. Sie beginnt: „Es [Böses] entstand nie und bestand nie als Wesenheit. Es ist nur eine falsche Annahme: die Annahme, daß Gott nicht, wie aus der Bibel zu schließen ist, das All in allem ist, sondern daß es eine entgegengesetzte Intelligenz oder ein gegenteiliges Gemüt, Böses genannt, geben könne.“ Wie schon erwähnt, können wir dies als die völlig befriedigende Antwort nur gelten lassen, wenn wir verstehen, daß sie vom Standpunkt des unbedingten Guten gegeben ist und daher dem sagenhaften Gebiet materiellen Denkens, dem die Frage entspringt, jede Daseinsberechtigung abspricht. Dadurch hört sie auf, eine Frage zu sein. Und sie hört in dem Verhältnis, wie wir im Unbedingten leben, auf, in uns aufzusteigen. Dies ist die einzige Antwort: das Böse hat keinen Ursprung, weil es keine Wirklichkeit hat, da Gott das All in allem ist.
Die Maria-Fragen sind anderer Art. Sie sind nicht die verwickelten Fragen menschlicher Art, sondern ein unmittelbares Fragen nach unbedingter Wahrheit. Sie lassen erkennen, daß das menschliche Bewußtsein sich dem ihm entgegengesetzten Göttlichen öffnet. Wir finden das vollständige, vollkommene Muster der Maria-Fragen in Wissenschaft und Gesundheit in dem Kapitel „Zusammenfassung“, das ursprünglich der Kern dieses großen Buchs war. Dort sind Fragen über Gott, den Menschen und die Wissenschaft des Seins beantwortet.
Die Menschheit nimmt im großen ganzen eine fragende Haltung ein. Das menschliche Denken, der menschliche Begriff ist im Grunde genommen an und für sich eine Frage, nämlich die Frage, auf die das Geistige die Antwort ist und die Antwort gibt. In diesem Vorgang wird den Menschenkindern die Antwort von dem Sohn Gottes zuteil. Wenn die Frage dringend genug ist, kommt die Antwort. So war zu einer Zeit, als die Menschheit vor allen Dingen nach einer geistigen Erneuerung, einer Wiedergeburt dürstete, Jesu Erscheinen auf Erden die Antwort. Ebenso brachte Mrs. Eddys Botschaft die Erfüllung, den Tröster, den eine unbefriedigte Welt brauchte.
Man muß fragen, um eine Antwort zu erhalten. Es ist nicht wichtig, wie wir fragen, sondern daß wir fragen. Maria fragte unmittelbar nach Jesu Lehren; Martha fragte vom Standpunkt des Selbstbedauerns und der Selbstrechtfertigung. Aber beide wandten sich, jede auf ihre Art, an den Meister in dem Vertrauen, daß er die Antwort geben konnte, und in der Überzeugung, daß es eine Antwort gab. Jede wurde auf ihre Art gesegnet.
Ebenso, wie wir den Rundfunkapparat andrehen müssen, um die Rundfunkwellen zu hören, die den Äther beständig durchdringen, ob wir uns ihrer bewußt sind oder nicht, müssen wir willig sein, auf die Antwort zu lauschen, die immer gegenwärtig und bereit ist, ins Bewußtsein zu kommen, sobald die Tür geöffnet ist. Dem göttlichen Gesetz gemäß geht die Versorgung der Nachfrage voraus, und dies auch nur einigermaßen verstehen heißt Glauben haben — heißt an Gott, die einzige Substanz, das einzige Prinzip, das Gute, glauben. Christus Jesus sagte in seiner Bergpredigt (Matth. 5, 3): „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.“
