Unzertrennlich von Christi Jesu erhabenem Heilungswerk war seine außergewöhnliche Liebe zu seinen Mitmenschen. Liebe war das Geheimnis seiner Macht. Liebe bestimmte das Denken und Handeln des demütigen Nazareners und bewirkte ein wunderbares, unwiderstehliches Verlangen, andern zu helfen und sie zu segnen. Die geistige Liebe, die Jesus ausdrückte, ging über das, was wir als menschliche Liebe betrachten, weit hinaus.
Jesus liebte immer. Er liebte zum Beispiel Zachäus. Er muß gewußt haben, wie zurückgesetzt und gehemmt sich ein Mann von so kleinem Wuchs zuweilen vorkommt; daher schenkte er dem Zachäus besondere Beachtung in dem Menschengedränge, das den Meister hören und sehen wollte. Jesus liebte Nikodemus, der nicht offen am Tage, sondern heimlich bei Nacht zu ihm kam, um ihn etwas zu fragen. Nur Liebe konnte den Meister die Schwierigkeit des Pharisäers so unmittelbar verstehen lassen. Er war zu dem Weib am Brunnen liebevoll und freundlich und lehrte sie große Wahrheiten. Er hatte für die reuige Sünderin in Simons Haus Verständnis und verteidigte sie in seiner großen Liebe, seinem großen Erbarmen. Er war gegen Martha sanft und geduldig, als sie sich sorgte und abfällig urteilte.
Der Meister sagte, als er seine Jünger die wahre Bedeutung geduldiger, selbstloser Liebe lehrte (Matth. 5, 41): „So dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.“ Es ist vielleicht nicht immer eine Person, die uns nötigt, diese erste Meile zu gehen, sondern eine bedauerliche Lage oder Erfahrung oder ein betrübender Zustand. Die Einschärfung läßt jedoch erkennen, daß der Irrtum, der uns zur ersten Meile treibt oder zwingt, ob er ganz unpersönlich oder durch eine Person kommt, sich immer als ein versteckter Segen erweisen kann.
Wie oft wir doch, weil wir mit den Erfahrungen und Leiden eines sogenannten Lebens in der Materie zu kämpfen haben, gezwungen sind, solch hindernde Irrtümer wie Groll, Verdammung, Ungeduld, Furcht und Haß aus dem Denken auszuscheiden! Wenn wir gleichsam im Dunkel irdischen Gebundenseins tappen, aber bei Gott Hilfe und Heilung suchen, finden wir, daß die mit der menschlichen Auffassung von Liebe verbundenen Lasten und Vereitelungen wegfallen, solange wir noch die erste Meile gehen.
Wie steht es nun aber mit der zweiten Meile? Was hat Christus Jesus damit gemeint? Offenbar sind wir nicht gezwungen, sondern gehen freiwillig mit unserem Bruder, wenn uns der geistige Sinn der göttlichen Liebe zum Bewußtsein kommt und an Stelle jener finsteren Gesinnungen tritt, die mit der erzwungenen ersten Meile verbunden waren. Jetzt tun wir Schritte, die zum Geist hinführen, nicht, weil eine traurige Erfahrung uns zwingt, sondern weil wir bereitwillig und aus freien Stücken zu der erhebenden, freudigen Erkenntnis gekommen sind, daß die Liebe bei jedem Schritt auf dem Wege bei uns ist.
Vieles kann uns gezwungen haben, die erste Meile zu gehen, aber die zweite ist wahrhaft ein Gebot der Liebe. Man geht sie auf Antrieb der göttlichen Liebe. Wenn wir in unserem Wirken innehalten, ehe wir bildlich gesprochen die zweite Meile gegangen sind, bringen wir uns um ein tiefes geistiges Erleben; denn bei jener zweiten Meile selbstlosen Liebens finden wir den Frieden und die Freude, die das Bewußtsein gibt, in der Gegenwart der Liebe zu weilen.
Gott, die Liebe, ist immer bei uns, auch bei der holprigen ersten Meile, wo der persönliche Sinn unsern geistigen Sinn vielleicht so verdunkelt, daß wir Immanuel oder „Gott mit uns“ weder sehen noch fühlen. Wieviele zweite Meilen wir versäumen mögen, wenn der menschliche Sinn sich so laut geltend macht, daß es nicht leicht ist, dem „stillen sanften Sausen“ zu lauschen! Wenn wir aber dem geistigen Geheiß demütig gehorsam sind und weitergehen, finden wir, daß die Liebe uns immer begleitet hat. Hat man Selbstbedauern, Eigenliebe und Selbstrechtfertigung aus dem Denken ausgeschieden, so findet man, daß jene göttlichen Eigenschaften, die das Bild und Gleichnis der Liebe wahrhaft augenscheinlich machen, nämlich Erbarmen, Versöhnlichkeit und Selbstlosigkeit, im Bewußtsein gegenwärtig sind. Die Heilung kommt vielleicht schon am Ende der ersten Meile; aber bei der zweiten Meile geheiligter Hingebung erreichen wir in größerem Maße das vollkommene Menschentum und machen es uns zu eigen.
Christus Jesus sah auf Grund seiner Liebe, daß sich in jedem Menschen etwas von Gottes Art bekundet. Damit, daß der Meister den Menschen als vollkommen sah und wußte, daß die Irrtumsannahmen, die geltend machten, der Mensch zu sein, unwirklich waren, erwies er den Menschen in der Tat das denkbar höchste Maß der Liebe. Wenn wir also sehen, daß unsere Mitmenschen in Wahrheit Gottes Ebenbild sind, so ist dies gleichfalls die höchste Liebe, die wir widerspiegeln können. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, zeigt im Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ klar, daß Christus Jesus auf diese Weise heilte. Sie schreibt auf Seite 476 und 477: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.“
Die Bibel lehrt uns, daß der Mensch zu Gottes Bild und Gleichnis geschaffen ist, und Mrs. Eddy betont diese große geistige Tatsache überall in ihren Schriften. Daß der Mensch geistig — dem vollkommenen Schöpfer entsprechend sogar vollkommen — ist, dies ist geradezu die Grundlage der christlich-wissenschaftlichen Lehre. Und wenn man Gottes Allheit und Vollkommenheit versteht, und ferner versteht, daß Seine Idee, der Mensch, ebenfalls vollkommen ist, weil Gott vollkommen ist, werden solch irrige sterbliche Annahmen wie Krankheit, Leid, Armut, Furcht, und Sünde geheilt.
In ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 (S. 9) legt unsere Führerin Jesu Gebot: „Folge du mir und laß die Toten ihre Toten begraben“, so aus: „Mit andern Worten, laß dir weniger an der Welt, an Beliebtheit, Gepränge und Bequemlichkeit gelegen sein und liebe.“ Dies ist die Liebe der göttlichen Liebe, die in uns und in andern die Erfüllung des Gesetzes Gottes ist. Die Liebe, die zu segnen und zu heilen trachtet, ist geduldig; sie bleibt Liebe, auch wenn sie nicht geschätzt und nicht erwidert wird. Sie ist eine völlig selbstlose Liebe, die die ganze Menschheit umfaßt und einen bereichert. Sie vernichtet die mit Teilnahmlosigkeit und Haß verbundene Armut. Sie ist nie niedergeschlagen, selbst wenn es augenblicklich scheinen mag, als ob ihre Bemühungen die Heilung oder das ersehnte Gute nicht bewirkten. Sie ist unendlich größer als bloße menschliche Liebe, die oft selbstsüchtig und unwürdig ist. Sie ist die Liebe Gottes, die der Mensch, Sein Ebenbild, bewußt widerspiegelt.
Diese geistige Liebe, die sich menschlich in dem folgerichtigen Verlangen bekundet, zu helfen, zu segnen, zu ermutigen und zu heilen, ist die Frucht der zweiten Meile. Tausende bezeugen heute voller Liebe, daß sie darin ihr wahres Selbst und die Freude des Arbeitens im Weinberg der Liebe finden. Wie wahrhaft sie doch die Worte Jesu verstehen gelernt haben, die Paulus anführt (Apg. 20, 35): „Geben ist seliger denn Nehmen“! Was für ein wunderbares, herrliches Vorrecht es ist, verstehen zu lernen, wie wir in einem immer weiteren Sinne geistiger Liebe und den damit verbundenen guten Werken die zweite Meile gehen können!
