Als Jesus die Nachricht erhielt, daß sein Freund Lazarus krank sei, sagte er (Joh. 11, 4): „Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde.“ Ihn bewegte nicht der Gedanke, wie das Beweisen der Macht Gottes ihn als eine menschliche Person erhöhen könnte. Er war vielmehr darauf bedacht, Gott zu ehren, indem er den Menschen bewies, daß der wirkliche Mensch nie stirbt. Die Aufzeichnungen über sein Leben lassen klar erkennen, daß er nie der Versuchung nachgab, in Erwägung zu ziehen, was von einem menschlichen Gesichtspunkt aus am vorteilhaftesten für ihn wäre. „Ich suche nicht meine Ehre“, sagte er einfach (Joh. 8, 50). Sein Leben war der Verherrlichung Gottes gewidmet.
Ebensowenig verlor Mary Baker Eddy durch die Annahme eines menschlichen Selbst ihr großes Ziel aus den Augen, Gott dadurch zu ehren, daß sie den Sterblichen Seine Gegenwart, Macht und Güte zeigte, damit sie von den Wirkungen ihrer eigenen begrenzten Begriffe von Ihm frei werden können. Im weiteren Verlaufe der Gründung der christlich-wissenschaftlichen Bewegung sah unsere Führerin, welche Gefahr für die Sache durch Verehrung der menschlichen Persönlichkeit an sie und ihre Nachfolger herantreten würde. Schließlich zog sie sich ganz von der Öffentlichkeit zurück, um diese Neigung zu abgöttischer Verehrung zu entmutigen, und das noch zu vollbringende große Werk mit möglichst wenig Unterbrechungen auszuführen. Wie klar sie doch die Wahrheit verstand, die sie in „Miscellaneous Writings“ (S. 282) äußert: „Vergeßt nicht, daß es Persönlichkeit und der Sinn von Persönlichkeit in Gott oder im Menschen ist, was den Menschen beschränkt“!
Die anmaßenden Bemühungen von Menschen, ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele zu fördern, mögen zwar zuweilen anscheinend dazu führen, daß sie in der Welt Beachtung finden; aber man erkennt bei einem weiteren Ergründen der Christlichen Wissenschaft, daß man erst dann weiß, was das Leben wirklich ist, wenn man sich über die Annahme eines von Gott getrennten Selbst zu erheben beginnt und nicht sich selber, sondern Gott zu ehren sucht. Hätte Jesus, wenn er geglaubt hätte, daß er etwas aus sich selber tun könne, wenn er mehr nach dem Beifall der Welt als danach getrachtet hätte, seinen Vater zu ehren, Lazarus aus dem Grab hervorrufen und seine anderen großen Werke vollbringen können? Und wären seine Lehren heute noch bekannt und für uns von Wert, wenn sein ganzes Streben nur darauf gerichtet gewesen wäre, die menschliche Persönlichkeit zu verherrlichen? Wie dankbar wir sein können, daß der Meister klar sah, daß er nichts aus sich selber tun konnte und bewies, daß man wahre Ehre in selbstlosem Widerspiegeln findet.
Auch unsere Führerin hätte wenig für das Wohl der Menschheit vollbracht, wenn sie sich selber zu verherrlichen gesucht hätte. Wenn sie nicht verstanden hätte, daß der Mensch Gottes geistige Idee ist und die unendliche Macht und Fähigkeit des einen Gemüts widerspiegelt, und daß die menschliche Persönlichkeit nur eine Nachahmung des wirklichen Menschen, des Bildes und Gleichnisses Gottes, ist, hätte sie der Welt nicht die Christliche Wissenschaft geben können.
Durch das Ergründen dieser Wissenschaft lernen wir verstehen, was die geistige Wahrheit, daß Gott unendlich, folglich das All in allem ist, eigentlich in sich schließt. Viele haben diese Tatsache einigermaßen erkannt, aber sie haben nicht gesehen, daß, da Gott das All in allem ist, das, was Gott ausdrückt, nicht von Ihm getrennt sein kann, sondern unumgänglich von Ihm kommt und an Seiner Art teilhaben muß. Es kann nichts außerhalb der Unendlichkeit geben; es gibt also keine andere Macht oder Gegenwart, die ausgedrückt werden könnte. Ferner ist Gott, da Er unendlich ist, der Geist. Er kann nicht materiell sein, weil die Materie endlich ist. Folglich ist das, was Gott ausdrückt, geistig. Der Mensch drückt alle Eigenschaften Gottes aus und kann unmöglich etwas ausdrücken, was nicht in Gott inbegriffen ist, weil es nichts außer Gott gibt.
Im Licht dieses Folgerns sehen wir, wie falsch der menschliche Begriff ist, daß das Weltall materiell und jeder Mensch eine materielle Persönlichkeit für sich sei. Der geistige Mensch spiegelt die unendliche Individualität, die Gott ist, individuell wider. Alle Ideen, die das geistige Weltall bilden, sind für den vollständigen Ausdruck Gottes nötig. Diese Wahrheit erhöht und verherrlicht die Individualität des wirklichen Menschen; denn sie zeigt, daß er durch Widerspiegelung so vollkommen wie Gott ist.
Jedes Verlangen oder Bestreben, das menschliche Selbst zu verherrlichen, läßt einen Mangel an Verständnis erkennen, daß man nichts aus sich selber tut, sondern daß der Mensch die Tätigkeit Gottes widerspiegelt. Wer diese große Wahrheit versteht, läßt sich weder von Selbstsucht noch von Selbstunterschätzung beeinflussen. Er weiß, daß er nichts aus sich selber tun kann; aber weil er Gottes unendliche Fähigkeit widerspiegelt, spiegelt er die Fähigkeit wider, alles, was recht ist, zu tun. In welchem Grade wir diese unendliche Fähigkeit hier und jetzt in unserem Leben bekunden, hängt von unserem geistigen Verständnis ab. Wir erlangen dieses Verständnis durch das Ergründen und Anwenden der Christlichen Wissenschaft.
Wenn wir versucht sind zu glauben, wir sollten nach weltlicher Ehrung oder Stellung, vielleicht einer Stellung in unserer Zweigkirche, trachten, um vorwärts zu kommen, können wir wissen, daß wir die geistige Tatsache aus den Augen verlieren, nämlich, daß Gehorsam gegen Gott allein ehrt. Eine Zeitlang kann unser Vordrängen uns ersehnte materielle Vorteile und ein gewisses Ansehen zu bringen scheinen; aber schließlich sehen wir ein, wie gehaltlos ein solcher Gewinn ist. Anderseits bieten sich uns, wenn unser Denken und Streben darauf gerichtet ist, geistig zu wachsen und unseren Mitmenschen zu dienen, immer mehr Gelegenheiten, Größeres zu leisten. Dann denken wir nicht an die menschliche Persönlichkeit, dann trachten wir auch nicht danach, uns selber zu verherrlichen, sondern Gott zu ehren.
Eine gesellschaftliche Stellung fällt im Denken vieler Menschen schwer ins Gewicht. Manche pflegen Verkehr mit Leuten, die reich sind oder eine angesehene Stellung bekleiden, und weigern sich, mit andern zu verkehren, die ihnen ihrer Ansicht nach im Wege stehen könnten. Manche treten in einen Klub oder in Vereine ein in der Hoffnung, dadurch in den Augen ihrer Mitmenschen mehr Ansehen zu erlangen. Die Zurechtweisung des Meisters, als die Mutter der Kinder des Zebedäus ihn bat, er möchte ihre Söhne Jakobus und Johannes in seinem Reich den einen zu seiner Rechten und den andern zu seiner Linken sitzen lassen, gilt auch uns, wenn wir ein von Gott getrenntes Selbst zu verherrlichen suchen (vgl. Matth. 20, 20–28). Unsere Führerin schreibt (Miscellaneous Writings, S. 268): „Zwei persönliche Fragen sind für das menschliche Handeln bedeutsam: Wer wird der Größte sein? und wer wird der Beste sein? Irdische Ehre ist nichtig, aber nicht nichtig genug, um zu versuchen, den Weg zum Himmel, zur Harmonie des Seins, zu weisen. Die Scheinsiege des Wetteiferns und der Heuchelei sind Niederlagen.“
In der Lebensbeschreibung: „Das Leben der Mary Baker Eddy“ von Sibyl Wilbur finden wir auf Seite 268 bis 273 der deutschen Übersetzung einige beachtenswerte Bemerkungen über Mrs. Eddys Stellungnahme zu der Erhöhung der menschlichen Persönlichkeit, und zu geselligen Veranstaltungen und öffentlichen Kundgebungen, um die Christliche Wissenschaft zu fördern. Das Kapitel schließt mit der Erklärung: „Öffentliche Veranstaltungen und solche Auftritte trugen viel dazu bei, daß Mrs. Eddy ihre längst gehegte Absicht, sich ganz von der Öffentlichkeit zurückzuziehen, ausführte, damit den ihrer Person zugedachten Schmeicheleien ein Ende gemacht, und der Wahrheit, die sie lehrte, Gelegenheit geboten werde, ihren Weg durch die Arbeit ihrer Schüler zu nehmen.“
Wenn wir die Allheit Gottes, des Guten, und des Menschen wahre Wesensart erkennen, hören wir auf, nach weltlicher Stellung, Macht oder Ehre zu trachten, und begnügen uns lieber damit, die Wahrheit, die uns durch das Ergründen der Christlichen Wissenschaft offenbar wird, im Leben zu verwirklichen. Dann werden wir im Denken und Leben einfach und liebenswürdig sein und nicht mehr glauben, daß wir etwas aus uns selber tun oder sein können. Dann wissen wir vielmehr, daß wir die Vollkommenheit und die unendliche Güte Gottes widerspiegeln. Anstatt zu versuchen, durch unsere menschliche Größe und Güte auf andere Eindruck zu machen, wird uns der Wunsch erfüllen, daß Gott das All in allem für uns sein möge. Unser Herz wird übervoll sein von Dank für Seine reiche Güte. Dann werden auch wir Tote auferwecken und augenblicklich heilen können — nicht um uns selber zu verherrlichen, sondern zur Ehre Gottes. Auf diese Weise kann der Mensch so leben, wie es nach der dem Propheten Jesaja zuteilgewordenen Offenbarung (43:7) Gottes Absicht ist: „Ich habe [ihn] geschaffen zu meiner Herrlichkeit.“
Thomas Carlyle schrieb einst: „Je älter ich werde — und ich stehe heute am Rande der Ewigkeit — desto öfter kommt mir ein Satz aus dem Katechismus in den Sinn, den ich als Kind auswendig lernte, und ich sehe darin eine immer tiefere und vollere Bedeutung: ‚Was ist das Hauptziel des Menschen? Gott zu ehren und sich seiner ewig zu erfreuen.‘ “ Was heißt Gott ehren? Heißt es nicht, Ihn über alles lieben, Seine Macht, Seine Weisheit, Seine Fülle, Seine Harmonie, Seine Vollkommenheit bekunden? Wie Johannes so klar zeigt, wird unsere Liebe zu Gott in unserer Liebe zu unseren Mitmenschen offenbar — nicht nur zu einigen, sondern zu allen Menschen. Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Korinther (10, 31): „Was ihr tut, tut es alles zu Gottes Ehre.“
 
    
