Eine junge Wissenschafterin, die eines Tages in Shakespeares Werken las, rief plötzlich aus: „Das ist aber nicht wahr!“ Als sie gefragt wurde, führte sie die Zeile an, der sie nicht zustimmte: „Süß ist die Frucht der Widerwärtigkeit“, und bemerkte dann dazu: „Widerwärtigkeit hat nichts Süßes an sich.“ Eine Erklärung des Apostels Paulus machte einst einen ähnlichen Eindruck auf die Verfasserin. Seine Worte (2. Kor. 12, 10): „Ich bin gutes Muts in Schwachheiten“, veranlaßten sie zu dem nachdrücklichen Ausruf: „Ich nicht!“
In späteren Jahren kam eine Zeit, wo die Betreffende, die die erwähnten Erklärungen verhöhnt hatte, durch eine Verletzung infolge eines Unfalls eine Lehre lernte, die ihr sehr not tat. Flehentlich schrie sie eines Tages zu dem Vater: „O Gott, sage mir, was ich tun soll!“ Sofort kam die Antwort: „Laß los“, worauf die Leidende fragte: „Was halte ich denn fest? Wovon soll ich loslassen?“ Als Antwort auf diesen menschlichen Schrei kamen die Worte: „Alles Materielle“.
Als sie über diese Antwort nachdachte, kam die Grundtatsache ans Licht, daß allezeit und überall nichts außer Gott besteht. Mary Baker Eddy schreibt in „Miscellaneous Writings“ (S. 307, 308): „Alles menschliche Denken muß sich unwillkürlich dem göttlichen Gemüt als seinem einzigen Mittelpunkt und seiner einzigen Intelligenz zuwenden. Solange dies nicht getan wird, kann man nicht finden, daß der Mensch harmonisch und unsterblich ist.“
Dies ist eine nachdrückliche und ungemein wichtige Erklärung, die zu einem klareren Denken führte. Sie machte die größte Anstrengung, ihr Haupt über den Nebel des materiellen Sinnes zu erheben, und sie sah klarer als je zuvor, daß sie die Auffassung von einem sterblichen Selbst vollständig aufgeben mußte. Die Vergegenwärtigung, daß nichts außer Gott besteht, brachte einen wunderbaren Frieden. Nun rief sie freudig und verständnisvoll aus: Gott wirkt in mir, und dies war schon immer die Tatsache.“
Zuweilen scheint jemand, der bemüht ist, die Christliche Wissenschaft gewissenhaft zu erfassen, und für den das Leben immer eine freudige Erfahrung war und zu Siegen führte, plötzlich auf ein Hindernis in Form von Krankheit, einem Unfall oder irgendeiner andern Einflüsterung dessen zu stoßen, was in der Christlichen Wissenschaft das sterbliche Gemüt genannt wird. In der unfreiwilligen Abgesondertheit scheint das köstliche Vertrautsein mit der Gegenwart Gottes zeitweilig getrübt, und es schleicht sich ein Gefühl der Schwere ein. Unwillkommene Gäste, die einem bis dahin verhältnismäßig fremd waren, wie Auflehnung, Unwille, Selbstbedauern und dergleichen, suchen in das Denken zu kommen. Die einzigen tröstlichen Worte, die das Dunkel durchdringen, sind vielleicht die: „Seid stille und erkennet, daß ich Gott bin“ (Ps. 46, 11). In der stillen Gemeinschaft mit dem Vater verliert man jedoch nie die Hoffnung, daß man die gesegnete Allheit Gottes wieder fühlen wird.
Eine solche Erfahrung dieser Wissenschafterin, eine Erfahrung, die sich ein wenig in die Länge zu ziehen schien, führte zu einem tieferen Erbarmen für Leidende und einem erneuten Verlangen, zu helfen und zu heilen. Wer von aufdringlichen materiellen Schatten unberührt beständig im Licht der Wirklichkeit weilt, versteht vielleicht nicht immer die Schwierigkeiten derer, die mit Finsternis ringen. Wenn einem aber die gewohnte Freiheit und das glückliche Bewußtsein der Gegenwart Gottes vorübergehend versagt ist, erwacht man zu einer tieferen Erkenntnis der Immergegenwart der Liebe, und dieses Erwachen bringt ein Verlangen mit sich, jene Liebe auszudrücken, die die Welt umfaßt und segnet. Man findet, daß sich dem erweckten Denken auf Schritt und Tritt neue Gelegenheiten bieten. Man sieht, wie möglich das ist, was Browning beschrieben hat:
Wird dem, der nie umkehrte, sondern vorwärts ging,
Nie Zweifel hegte, daß die Wolken sich zerteilen,
Der sich nie träumen ließ, daß Unrecht siegen werde,
so sehr verdreht das Recht auch ward,
Einhalt geboten, so fallen wir, um wieder aufzustehen; werden wir beschämt, um besser zu kämpfen;
Schlafen wir, um zu erwachen.
Manchmal scheint es, als müßte einen Widerwärtigkeit berühren, um uns das Dringende menschlicher Notlagen zu zeigen. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 296 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“: „Fortschritt wird aus Erfahrung geboren. Wenn der sterbliche Mensch reift, läßt er das Sterbliche für das Unsterbliche fallen. Entweder hier oder hiernach muß Leiden oder Wissenschaft alle Illusionen in bezug auf Leben und Gemüt zerstören, und der materielle Sinn und das materielle Selbst muß wiedergeboren werden.“
Großen Eindruck macht auf den Christlichen Wissenschafter das Verfahren Christi Jesu, der die Gegenwart und Macht Gottes beständig erkannte. Er heilte durch das Bewußtsein des Einsseins des Menschen mit Gott. Er sagte (Joh. 10, 30): „Ich und der Vater sind eins“, und er bewies die unbedingte Einheit und Vollständigkeit Gottes und Seiner Idee, des Menschen, für sich selber und für andere. Sein Verständnis heilte, weil er wußte, daß der Mensch beständig Gott ausdrückt. Suchen wir wahrhaft den Christus-Geist auszustrahlen? Dann folgen wir dem Beispiel des Meisters und lassen in unserem Handeln allen Menschen gegenüber nur Liebe walten. Er zeigt uns, wie wir wahre Jünger sein können, in den Worten (Joh. 13, 35): „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“
Unsere erleuchtete Führerin, die den tückischen Plänen des sterblichen Gemüts und den Anfechtungen des materiellen Daseins entgegenzutreten hatte und sie überwand, zeigt das wahre Heilverfahren klar (Wissenschaft und Gesundheit, S. 367): „Ein freundliches Wort an den Kranken und die christliche Ermutigung desselben, die mitleidsvolle Geduld mit seiner Furcht und deren Beseitigung sind besser als Hekatomben überschwenglicher Theorien, besser als stereotype entlehnte Redensarten und das Austeilen von Argumenten, welche lauter Parodien auf die echte Christliche Wissenschaft sind, die von göttlicher Liebe erglüht.“
Wenn wir bei unserem geistigen Vorwärtsgehen fallen, so ist es nur, um mit einem reicheren Verständnis von Gott, als wir zuvor hatten, wieder aufzustehen. Wenn wir in gefühllosem Stumpfsinn geschlafen haben, müssen wir durch das Verständnis und die Anwendung der Christlichen Wissenschaft zu verherrlichtem Sein erwachen. So beweisen wir durch dick oder dünn, hoch oder nieder, durch Widerwärtigkeit oder im Wohlergehen: „Die Liebe höret nimmer auf.“
