Mit großer Weisheit hat Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, bestimmt, daß die Regierungsform aller christlich-wissenschaftlichen Kirchen demokratisch sein soll. In „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ schreibt sie (S. 246, 247): „Die Magna Charta der Christlichen Wissenschaft bedeutet viel, multum in parvo, — alles in einem und eines in allem. Sie vertritt die unveräußerlichen, universalen Rechte des Menschen. Ihre Regierung ist im wesentlichen demokratisch und erfolgt mit allgemeiner Zustimmung der Regierten; in derselben und durch dieselbe regiert sich der von seinem Schöpfer regierte Mensch selber.“ Mrs. Eddy legte diesem Abschnitt, aus dem das obige Zitat ein Ausschnitt ist, eine solche Bedeutung bei, daß sie, als sie darum gebeten wurde, ihre Zustimmung dazu gab, daß Zweigkirchen diesen Absatz in das Vorwort der Kirchensatzungen aufnehmen können (Miscellany, S. 254, 255).
Sobald persönliches Führertum in einer christlich-wissenschaftlichen Kirche, Vereinigung oder einer anderen Gruppe von Christlichen Wissenschaftern unwidersprochen bleibt, handelt eine solche Kirche, Vereinigung oder Gruppe dem Wunsch und Rat Mrs. Eddys zuwider. Kirchenmitglieder täten gut daran, sich einmal die Frage vorzulegen, inwieweit sie selbst für solche persönliche Beherrschung mitverantwortlich sind, ehe sie sich über eine solche in ihrer Mitte beklagen. Ebensowenig wie ein Hypnotiseur seine Tätigkeit ausüben kann ohne Personen, die sich hypnotisieren lassen, kann es eine persönliche Beherrschung geben ohne Personen, die willig sind, sich beherrschen zu lassen.
Mrs. Eddy sagt von der Kirche Christi, Wissenschafter, daß ihre Regierung „mit Zustimmung aller Regierten“ ausgeübt werden solle, nicht durch eine Persönlichkeit oder eine Minderheit. In der demokratischen Regierungsform ist es daher die Kirchenmitgliedschaft als Ganzes, die den Kurs der Kirche bestimmt, niemals eine einzelne Persönlichkeit. Denn die Mitglieder machen ja die Kirche aus. Natürlich kann die Mitgliedschaft nicht alle Funktionen der Kirche selbst ausüben. Dazu ist sie eine zu schwerfällige Körperschaft. Zu diesem Zweck wählt sie sich einen ausführenden Vorstand, der die Kirchengeschäfte in Übereinstimmung mit den Satzungen zu führen hat. Der Vorstand wiederum wählt aus der Mitgliedschaft die Mitglieder der einzelnen Komitees, die die verschiedenartige Kirchentätigkeit ausüben.
Die Mitgliedschaft stattet diesen ausführenden Vorstand mit einem gewissen Maß Autorität aus, denn sonst könnte er ja nicht arbeiten. Aber der Vorstand bleibt der Mitgliedschaft immer verantwortlich. Es ist die Kirchenmitgliedschaft, die souverän ist, denn sie ist die Kirche. Sie kann jederzeit einen Akt des Vorstandes ändern oder rückgängig machen, falls sich dies als notwendig erweisen sollte. In einem solchen Fall wird der Vorstand der Mitgliedschaft dafür Dank wissen, daß sie ihn vor einem falschen oder vielleicht voreiligen Schritt bewahrt hat.
Die Mitgliedschaft übt ihre souveränen Rechte in den Mitgliederversammlungen aus — daher die Wichtigkeit dieser Kirchensitzungen, wo die Mitglieder die Entscheidung über die Probleme, die sich der Kirche darbieten, fällen müssen. Der Vorsitzende der Kirche sollte jedem Mitglied Gelegenheit geben, gehört zu werden, und falls nötig sollte er das freie Aussprechen einer Meinung und eine eingehende Erörterung fördern. Er sollte sich unparteiisch verhalten, aber, wie alle Mitglieder, sollte er ernstlich beten, daß ihm gezeigt werde, welche Auffassung dem Rechten am nächsten kommt. Der Vorstand sollte den Mitgliedern alle Auskunft zugängig machen, die benötigt wird, um ein gerechtes Urteil über eine zur Erörterung stehende Frage zu fällen. Es ist als hilfreich empfunden worden, ja in vielen Fällen wird es sogar in den Kirchensatzungen festgelegt, daß die Mitglieder versandten Einladungen zu den Kirchensitzungen die Gegenstände der Beratung, auch Punkte der Besprechung genannt, auf der zugesandten Tagesordnung enthalten, damit diese Punkte zu Hause von den Mitgliedern im Gebet reiflich überlegt werden können.
Es ist gut, daß die Mitgliedschaft die schließliche Verantwortung zu übernehmen und die endgültige Entscheidung zu treffen hat, denn es ist das einzelne Mitglied, das sich direkt an Gott, das göttliche Gemüt, das Prinzip, um Führung wenden muß. In dem zitierten Satz, der sich auf die Magna Charta der Christlichen Wissenschaft bezieht, spricht Mrs. Eddy von den unveräußerlichen Rechten der Menschen, deren Ausübung ganz augenscheinlich in direkter Beziehung zu der demokratischen Form der Kirchenregierung steht. Sie gibt eine nähere Definition dieser Rechte in dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“, wo sie schreibt (S. 106): „Gott hat dem Menschen unveräußerliche Rechte verliehen, unter andern: Selbstregierung. Vernunft und Gewissen.“
In den Mitgliederversammlungen wird an jedes Mitglied der Anspruch gestellt, seine ihm von Gott verliehenen Rechte anzuwenden. Die Fähigkeit der Vernunft, auf Kirchenprobleme zur Anwendung gebracht, wird dem die Klarheit so leicht verwischenden Einfluß der blinden Hingabe an rein menschliche Gefühle und der Parteilichkeit entgegenwirken. Das Mitglied sollte sich mit den Tatsachen vertraut machen; es sollte, falls notwendig, Fragen stellen, und es sollte die Tatsachen in seinem eigenen Denken abwägen. Das Mitglied sollte es sich überlegen, ob es eine Maßnahme mit gutem Gewissen unterstützen kann. Es sollte niemals sein Gewissen einem andern überantworten. Das Mitglied kann sich an das Handbuch Der Mutterkirche und an die Satzungen seiner eigenen Zweigkirche um Führung wenden. Dies ist die Ausübung seines Rechtes, selbständig zu denken — mit anderen Worten, seines Rechtes der Selbstregierung.
Mrs. Eddy beläßt die Frage der Selbstregierung nicht bei dieser kurzen Aufzählung der von Gott verliehenen Rechte. Sie fährt nämlich daselbst wie folgt fort: „Der Mensch regiert sich eigentlich nur dann selbst, wenn er sich von seinem Schöpfer, der göttlichen Wahrheit und Liebe, richtig leiten und regieren läßt.“ Die Demonstration wahrer Selbstregierung drückt sich daher niemals durch Starrsinn oder eine Tendenz zur Isolierung aus, sondern führt dazu, daß Wahrheit und Liebe von allen zum Ausdruck gebracht werden.
Es ist äußerst beachtenswert, daß die hier zitierten Ausführungen unserer Führerin über die Menschenrechte und über die Natur der Selbstregierung in dem Kapitel enthalten sind, das den Titel „Die Entlarvung des tierischen Magnetismus“ trägt. Denn es ist der tierische Magnetismus, der das Kirchenmitglied seiner ihm göttlich verliehenen Rechte berauben möchte. Einzelpersonen wie auch Gemeinwesen haben die verheerenden Folgen einer Übergabe dieser Rechte erfahren, und Mrs. Eddy möchte ihren Kirchen solche Erfahrungen ersparen, die immer nur dazu führen, daß man denselben Weg zurückgehen muß, um wieder auf den richtigen Weg zu gelangen — den Weg der demokratischen Regierung. Man sollte nicht vergessen, daß Mrs. Eddy sagt, daß die Menschenrechte von Gott herrühren und unveräußerlich sind. Da das Kirchenmitglied weiß, daß der wahre Mensch nicht der Regierung durch Gott beraubt werden kann, beweist es seine individuellen Rechte der „Selbstregierung, der Vernunft und des Gewissens.“ Wenn alle Kirchenmitglieder diese Selbstregierung in die Tat umsetzen, wird das eine Gemüt regieren und nicht seine Fälschung, die hypnotische Einstimmigkeit, die entweder durch Willenskraft oder durch Gleichgültigkeit oder Empfindsamkeit andererseits hervorgerufen wird.
Mitgliederversammlungen sind eine ausgezeichnete Schule der demokratischen Selbstregierung. Wenn ein Antrag von einer Mehrheit angenommen worden ist, sollte die Minderheit ihn getreu unterstützen. Andererseits sollte die Mehrheit liebevoll die Ansichten der Minderheit in Betracht ziehen. Die Minderheit möge versichert sein, daß, falls sie im Recht war, das göttliche Prinzip dies eines Tages allen klar vor Augen führen wird. Und wenn sie im Unrecht war, wie die Zukunft es vielleicht zeigen mag, um wieviel besser war es für die Kirche, daß die Mehrheit gewann. Gegenteilige Meinungen dürfen niemals auch nur einen Schatten auf die menschlichen Beziehungen werfen. Nach Schluß der Mitgliederversammlung sollte jedes Kirchenmitglied in gutem Einvernehmen mit allen anderen nach Hause gehen können.
Ein Wort möge hier über Mrs. Eddys Führertum gesagt werden. Die christlich-wissenschaftliche Bewegung hat mit Berechtigung ihrer Gründerin den Platz einer Führerin zuerkannt. Wir können versichert sein, daß alles, was diese große Frau für die christlich-wissenschaftlichen Kirchen getan hat, ihrer tiefen und zärtlichen Liebe für sie entsprungen ist und sich auf ihre wunderbare Vision gründet. Trotz alledem unterweist Mrs. Eddy ihre Nachfolger in großer Demut: „Befolgt genau die bestehenden Gesetze und folgt eurer Führerin nur so weit, wie sie Christus folgt“ (Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901, S. 34). Augenscheinlich hat sie dieser Ermahnung sehr große Bedeutung beigemessen; denn sie wiederholt sie in ihrer Botschaft an ihre Kirche im darauffolgenden Jahr.
In der Ausübung seiner gottverliehenen, unveräußerlichen Rechte wird jedes Kirchenmitglied immer mehr von den göttlichen Eigenschaften widerspiegeln, welche die Menschheit richtig führen, und somit wird es im steigenden Maße unempfindlich gegen irrendes menschliches Führertum und persönliche Beherrschung. Jeder einzelne wird dann seinen Beitrag in Gedanken, in Worten und in der Tat in den Kirchensitzungen oder in den Komiteesitzungen beisteuern, und er wird gleichzeitig das, was andere beisteuern, achten. Eines der hervorstehendsten Merkmale eines reifen demokratischen Volkes ist die gegenseitige Anerkennung der individuellen Rechte, eine Anerkennung, die es seinen Bürgern möglich macht, sich als Gleichberechtigte zu begegnen. Diese Freiheit in den menschlichen Beziehungen entspricht direkt den Lehren Jesu, daß der Mensch Gottes Sohn und nicht ein Knecht ist. So können nun in wacher, unabhängiger, hingebungsvoller Kirchenarbeit alle Mitglieder in steigendem Maß die königlichen und priesterlichen Eigenschaften, die den von Gott regierten Menschen charakterisieren, beweisen. Denn sagt nicht Johannes von dem Christus (Offenb. 1, 6), daß er „uns zu Königen und Priestern gemacht vor Gott und seinem Vater“?
