Nachdem Mary Baker Eddy die Christliche Wissenschaft entdeckt hatte, fand ein Wandel in ihrem Bewußtsein statt. Dies war unvermeidlich wegen der geistigen Erleuchtung, welche die Entdeckung begleitete. Ihre Auffassung von Leben und Wissen wurde umgewandelt vom Materiellen zum Geistigen. In ihrem Buch „Rückblick und Einblick“ schreibt sie über ihre Erfahrung in Beziehung auf das Wissen wie folgt (S. 10): „Das Lernen war so erleuchtet, daß die Sprachlehre ausgeschaltet war. Die Wortkunde war göttliche Geschichte, die in des Menschen Ursprung und Bedeutung die Idee Gottes verkündete. Die Satzlehre war geistige Ordnung und Einheit, die Verslehre, der Gesang der Engel — nichts Weltliches, Ruhmloses.“
Die Verslehre oder Prosodie ist der Teil der Sprachlehre, der sich mit den Gesetzen des Versemachens oder der gebundenen Rede beschäftigt, und ist daher besonders mit der Dichtkunst verknüpft. Die Sprache erreicht erhabensten Ausdruck in dichterischen Erzeugnissen. Daher kann ein großer Dichter ebenso hoch oder sogar noch höher geachtet werden als ein Prosaschriftsteller der besten Art.
Mrs. Eddy war selbst vor ihrer Entdeckung der Christlichen Wissenschaft dichterisch veranlagt. Sie schreibt (ebd., S. 11): „Schon als Kind machte ich gern Verse. Dichtung entsprach meinem Empfinden mehr als die ungebundene Rede.“ Wir finden unter ihren Schriften eine Anzahl schöner Gedichte, von denen sieben vertont wurden und nun in dem Christlich-Wissenschaftlichen Gesangbuch zu finden sind.
Indem sie der Dichtung solch einen wichtigen Platz in ihren Schriften einräumte, folgte Mrs. Eddy dem Beispiel der Heiligen Schrift. Verschiedene Bücher der Bibel hatten ursprünglich eine dichterische Fassung; ja, selbst wenn sie in englische Prosa übersetzt sind, bewahren sie noch viel von ihrer ursprünglichen dichterischen Schönheit. Unter diesen Schriften könnten besonders die folgenden Bücher des alten Testamentes erwähnt werden: Die Psalmen, das Buch des Jesaja und das Hohelied Salomos.
Die Gedichte Mrs. Eddys bilden einen einzigartigen Beitrag zu der Kunst des Heilens sowohl wie zu der Kunst der Literatur. Zweck und Ziel der Christlichen Wissenschaft ist vor allem, der Menschheit Heilung und Erlösung zu bringen; daher war die Absicht unserer Führerin, bei all ihren inspirierten Schriften, zu heilen und zu lehren.
Ihre Gedichte stimmen ebenfalls mit diesem Zielstreben überein. Mrs. Eddy hat ein neues Richtmaß für die Dichtung aufgestellt, das mit der Zeit immer allgemeiner angenommen werden wird. Gemäß ihrem Richtmaß ist die Prosodie der „Gesang der Engel“. In ihren Schriften wird die Metrik von geistigen Ideen überschattet. Zwar wird Schönheit der Form ausgedrückt, doch die Schönheit der Form wird dem Zwecke der Heilung untergeordnet. Sie zielt nicht nur darauf hin, das Ohr mit musikalischen Eindrücken zu erquicken, sondern einer überbürdeten und furchtbeladenen Welt Heilung und Erlösung zu bringen.
Gar oft, wenn man Mrs. Eddys Lieder oder Gedichte liest, dringt die tiefere Bedeutung der Worte ein ins Bewußtsein und bringt Heilung und Frieden. Der Verfasser erinnert sich an eine gewisse Gelegenheit, als Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit sein Herz erfüllte. Kein Stern schien über seinem Horizont mehr zu scheinen, kein Hoffnungsstrahl in seinem Herzen. Er befand sich während des Krieges in einer Lage, aus der kein Weg zur Freiheit mehr zu führen schien.
Von ganzem Herzen wandte er sich nun an Gott und betete um Erlösung, und plötzlich kam ihm der letzte Vers jenes schönen Liedes von Mrs. Eddy „Das Abendgebet der Mutter“ mit neuer Bedeutung in den Sinn (Gedichte, S. 4):
„Nicht Falschheit, Arglist, Krankheit oder Schmerz,
Nicht Sorg’ noch Angst umnachten mehr das Herz,
Wenn Himmelsnachglühn ird'sche Tränen bannt,
Und Mutter heim zu Gottes Frieden fand.“
Er hielt in Gedanken inne, als er die dritte Zeile wiederholte, und dachte einen Augenblick über ihre geistige Bedeutung nach. Als er aufschaute zum Abendhimmel, wo die Sonne gerade mit glühenden Farben verschwunden war, wurde sein Bewußtsein plötzlich wie von Licht überflutet, denn er bemerkte, wie das Nachglühen der Sonne sich in den Tautropfen widerspiegelte, die auf Blättlein, Gras und Blumen lagen. In einem Moment wurde ihm die Bedeutung von Widerspiegelung klar. Der Mensch konnte niemals von Gott geschieden werden, da der Mensch Gottes Wesen widerspiegelt, ebenso gewiß wie ein Tautropfen die Sonne oder das Licht ihres Nachglühens widerspiegelt. Selbst wenn der Annahme nach die Sonne untergegangen war, so wurde ihr Licht immer noch in leuchtendem Glanz und in Schönheit von jedem kleinsten Tautröpflein auf dem Pfade ihres Lichtes oder im Schein ihres Nachglühens widergespiegelt. Innerhalb weniger Stunden wandelte sich die Lage, die so gefahrdrohend schien, vollkommen um, und der Wissenschafter wurde befreit.
Der wahre Wert des geschriebenen Wortes, sei es nun in gebundener oder ungebundener Rede, wird immer mehr nach seiner Macht zu heilen und zu segnen beurteilt werden. Mrs. Eddy hat ein Panier aufgeworfen für die Völker. Sie folgte hierin dem dringenden Ruf des Propheten Jesaja, welcher schrieb (62:10): „Werft ein Panier auf über die Völker!“ Ihr Vorsatz war nicht nur, ein hervorragendes literarisches Erzeugnis zu schaffen, das dem Richtmaß einer gewissen Zeitepoche entsprach, sondern unter anderem, eine einzigartige Klasse von Literatur zu schaffen, deren Zweck in erster Linie der Heilung dient.
Ihre Gedichte ebensowohl wie ihre Prosa werden, in diesem Lichte gesehen, eine neue Bedeutung für den Leser gewinnen. Die literarische Norm einer bestimmten Zeitepoche wird nicht mehr als Maßstab dafür angesehen werden. Die Menschen werden verstehen lernen, daß Mrs. Eddys Stil für ihre Prosa sowohl wie für ihre Dichtung einzigartig, und nicht nur einer besonderen Era angepaßt, sondern für alle Zeiten bestimmt ist; denn ihr Zweck und Ziel war nicht materiell, sondern geistig. Der wahre Wert aller großen Literatur wird dann zweifellos nach dem geistigen Vorsatz beurteilt werden, der sie inspiriert, und nach der Heilung, die sie bewirkt.
Lasset uns untereinander unser selbst wahrnehmen mit Reizen zur Liebe und guten Werken.— Hebräer 10:24.