Es ist wohl manchmal Menschen, die zum ersten Mal einen christlich-wissenschaftlichen Gottesdienst besuchten, aufgefallen, daß das einzige öffentliche Gebet, das wir haben, aus ein paar Minuten stiller Gemeinschaft mit Gott besteht, worauf das gemeinsam gesprochene Gebet des Herrn allein folgt, oder auch dieses Gebet mit dessen geistiger Erklärung, wie wir sie im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ von Mary Baker Eddy finden.
Manchmal wird die Frage aufgeworfen, warum wir nur stille Gebete in unsern Gottesdiensten haben. Die Christlichen Wissenschafter beten still, in den Gottesdiensten sowohl wie im Privatleben. In ihrem Buch „Nein und ja“ (S. 39) schreibt Mrs. Eddy, die Entdekkerin der Christlichen Wissenschaft: „Die Propheten und Apostel haben Gott im Verborgenen betend verherrlicht, und Er hat es ihnen vergolten öffentlich. Das Gebet kann weder Gott ändern noch Seine Pläne in sterbliche Verfahren bringen; aber es kann unser Verfahren und unsern falschen Sinn vom Leben, von der Liebe und der Wahrheit ändern und ändert sie tatsächlich, indem es uns zu Ihm emporhebt. Solches Beten demütigt, läutert und belebt die Tätigkeit in der rechten Richtung. Wahrhaft beten heißt nicht, Gott um Liebe bitten; es heißt, lieben lernen und alle Menschen in eine Liebe einschließen.“
Der Apostel Jakobus schrieb (5:16): „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.“ Jahrhundertelang haben Menschen Tag für Tag und Jahr für Jahr dieselben Gebete wiederholt — von denen manche vor langen Zeiten geschrieben wurden — bis sie anfingen einzusehen, daß es beim lauten Beten oft an der wahren Inbrunst mangelte, und vor allem, daß diese Gebete weder wirksam noch heilkräftig waren.
Heutigentags geben die Menschen allmählich, in dem Maße wie das Denken geistig erleuchteter wird, den Begriff einer Gottheit auf, die einem verherrlichten Menschen gleicht, — den Begriff eines menschenähnlichen Gottes; doch besteht immer noch die Neigung, an die Gottheit als etwas weit Entferntes, etwas vom Menschen Getrenntes, zu denken. Bei vielen werden die Gebete immer noch an einen Gott gerichtet, der an einem gewissen, „Himmel“ benannten, Orte wohnt. Das Licht der Wahrheit, das in der Christlichen Wissenschaft offenbart wird, bringt uns die herrliche Erkenntnis, daß Gott unendliches, allumfassendes Sein ist, daß Er nicht an einem bestimmten Ort weilt, sondern daß Er allgegenwärtig ist, gerade da, wo wir zu sein scheinen, und wo wir scheinbar der Liebe und der Macht Gottes bedürfen, wie der Prophet schon erklärte (Jer. 23:24): „Meinst du, daß sich jemand so heimlich verbergen könne, daß ich ihn nicht sehe? spricht der Herr. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde füllt? spricht der Herr.“
Die Christliche Wissenschaft verändert unsere Auffassung vom Gebet und unsere Einstellung hinsichtlich des Gebets, indem sie die Tatsache enthüllt, daß Gott das eine allgegenwärtige Gemüt oder Bewußtsein ist. In ihrem Lehrbuch schreibt Mrs. Eddy (S. 11): „Bittgebete bringen den Sterblichen nur die Ergebnisse ihres eignen Glaubens. Wir wissen, daß ein Verlangen nach Heiligkeit erforderlich ist, um Heiligkeit zu gewinnen; wenn wir aber Heiligkeit mehr als alles andre begehren, so werden wir alles für sie opfern. Wir müssen hierzu willig sein, damit wir sicher auf dem einzig praktischen Weg zur Heiligkeit wandeln können. Das Gebet kann die unwandelbare Wahrheit nicht ändern, noch kann uns das Gebet allein ein Verständnis von der Wahrheit geben; das Gebet jedoch, das sich mit einem inbrünstigen, beständigen Verlangen verbindet, den Willen Gottes zu erkennen und zu tun, wird uns in alle Wahrheit leiten. Das Bedürfnis nach dem hörbaren Ausdruck eines solchen Verlangens ist gering. Es kommt am besten im Gedanken und im Leben zum Ausdruck.“
Bittgebete an einen fernen Gott könnten natürlich Zweifel erwecken, ob sie auch gehört werden, doch lernen wir glücklicherweise verstehen und beweisen, daß nichts zwischen Gott und dem Menschen steht, nicht einmal eine Annahme von Entfernung. „Denn wo ist so ein herrlich Volk, zu dem Götter also nahe sich tun als der Herr, unser Gott, so oft wir ihn anrufen?“ (5. Mose 4:7.) In der Wissenschaft ist alles neu geworden; und das ist auch wahr in Beziehung auf das Gebet, in der Form sowohl wie im Ausdruck.
Stilles Gebet führt einen in natürlicher Weise hinweg von Formeln und Rituell und der Möglichkeit leerer Wiederholung. In dieser stillen Gemeinschaft mit dem unendlichen Gemüt brauchen wir augenscheinlich keine bestimmte Wort- oder Spruchformeln; denn offenbarte oder inspirierte Gedanken erscheinen oder entfalten sich uns. Dies zeigt sich in der Erkenntnis von der Allheit und Allgegenwart der Liebe. Man kann klarer und wirksamer denken als sprechen oder schreiben, daher der große Wert des geistigen Einsseins mit Gott, das im stillen Gebet demonstriert wird.
In der menschlichen Erfahrung mag das geistige Bedürfnis des einen nicht dem seines Bruders gleich sein. Die Forderung des heutigen Tages mag nicht notwendigerweise die Forderung des morgigen Tages sein. Da das menschliche Bewußtsein sich immerwährend verändert, wird sich auch das Denken hinsichtlich des Gebets ändern. Um die wahre Weihe der Inspiration zu haben, muß das Gebet oder die stille Gemeinschaft mit Gott spontan sein und dem geistigen Bedürfnis des Augenblicks entspringen. Der Meister mußte das wohl erkannt haben, als er sagte (Matth. 6:6): „Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich.“
Mit Beziehung auf diese Erklärung des Meisters schreibt Mrs. Eddy in ihrem Lehrbuch (S. 15): „Das Kämmerlein versinnbildlicht das Heiligtum des Geistes, dessen Tür den sündigen Sinn ausschließt, aber Wahrheit, Leben und Liebe einläßt. Ist die Tür dem Irrtum verschlossen, so steht sie der Wahrheit offen, und umgekehrt. Die physischen Sinne sehen den Vater im Verborgenen nicht; Er aber weiß alle Dinge und belohnt nach Beweggründen, nicht nach Worten. Um in das Herz des Gebets einzudringen, muß die Tür der irrenden Sinne verschlossen sein. Die Lippen müssen verstummen, und der Materialismus muß schweigen, auf daß der Mensch beim Geist Gehör finde, bei dem göttlichen Prinzip, der Liebe, die allen Irrtum zerstört.“
Niemand kann eindringen in das Bewußtsein unseres Bruders und sein innerstes Verlangen wahrnehmen, jenes stille Sehnen nach dem Geiste, selbst wenn manchmal der äußere Anschein nichts derartiges bekundet. Stilles Gebet erläutert und demonstriert im wahrsten Sinne die ewige Verbundenheit zwischen Gott und dem Menschen, dem Gemüt und seiner eigenen Idee. Hier gibt es kein Mittleramt — hier braucht es keins zu geben.
Dicht am Throne der Gnade können wir still unser Einssein mit der göttlichen Liebe behaupten, alle Identifikation mit dem materiellen Sinn zurückweisen und des Menschen wahre und ewige Selbstheit in Christus in die Erscheinung treten lassen.
„Hier keine Worte nun mehr spricht
Der Mund, der sonst beredt;
Gott aber hört, und Er versteht
Das schweigende Gebet.“
Wohl dem Volk, des Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat! Der Herr schaut vom Himmel und sieht aller Menschen Kinder. Von seinem festen Thron sieht er auf alle, die auf Erden wohnen. Er lenkt ihnen allen das Herz; er merkt auf alle ihre Werke.— Psalm 33:12–15.
