Nichts, womit das menschliche Denken sich heute beschäftigt, verdient so dringend beachtet zu werden wie der Gedanke der fortdauernden und unzerstörbaren Individualität des Menschen. Keine Idee ist reifer für das Erfassen. Und kein Begriff stößt allgemein auf größeren Widerstand seitens des vermeintlichen Bösen; denn die Demonstration des individuellen Menschentums, wie Gott es erschuf und wie Christus Jesus es offenbarte, führt zur Zerstörung des Bösen.
In der immer höher führenden Offenbarung geistiger Wahrheit hat das Christentum in der Christlichen Wissenschaft die Enthüllung der Tatsache erreicht, daß der Mensch geistig und vollkommen und individuell ist. Wir alle werden in alle Ewigkeit unser individuelles Selbst bewahren, ohne jemals durch Vergeistigung in der Gottheit aufzugehen; noch werden zwei Menschen sich je in einen Menschen verschmelzen. In etwas aufgehen oder absorbiert werden bedeutet verschwinden oder die Wesenheit verlieren. Die Christliche Wissenschaft erklärt jedoch, daß alle Wesenheiten in ihrer besonderen Eigenart und Individualität als mit dem einen Gemüt, mit Gott, zusammenbestehende Ideen erhalten bleiben. Jede Demonstration der Christlichen Wissenschaft offenbart in gewissem Maße den individuellen Menschen, seinen Charakter, seine Gesundheit, seine Tätigkeit, seine Umgebung.
„Gott ist das individuelle Gemüt“, schreibt Mary Baker Eddy in „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 101). Und sie fährt fort: „Dieses eine Gemüt und Seine Individualität schließen die Elemente aller Formen und Individualitäten in sich und prophezeien das Wesen und die Größe Christi, des idealen Menschen.“ Gottes idealer Mensch — Seine höchste Idee — wird in der unendlichen Individualität, in der das Gemüt sich ausdrückt, endlos vervielfacht. Dies ist aus den Ausdrücken ersichtlich, die in der Christlichen Wissenschaft gebraucht werden, um den Menschen zu beschreiben, wie Mrs. Eddy ihn in der Wissenschaft enthüllt — Ausdrücke wie: Unsterbliche, Spiegelbilder, unendliche Ideen, Söhne und Töchter, geistige Wesen, göttliche Kinder, individuell ausgeprägte Ideen. Wir finden in der Wissenschaft, daß jeder Mensch in seiner wirklichen Wesenheit, die nicht absorbiert werden kann, dasselbe unendliche Gemüt widerspiegelt, aber jeder tut es auf eine individuelle, von Gott verordnete Weise. Jesaja muß einen Schimmer erhascht haben von der Wahrheit hinsichtlich der fortdauernden Eigenart des Menschen, als er mit Bezug auf die Schöpfungen Gottes sagte (40:26): „Er ruft sie alle mit Namen; sein Vermögen und seine starke Kraft ist so groß, daß es nicht an einem fehlen kann.“
Mrs. Eddy verweist oft auf Gott als Vater und auf Seine Kinder als die Familie des göttlichen Vaters. In „Rückblick und Einblick“ sagt sie von Gott (S. 22): „Er allein ist unser Ursprung, unser Ziel und unser Sein.“ Und dann fügt sie hinzu: „Der wirkliche Mensch ist nicht vom Staube, noch ward er je durch das Fleisch erschaffen; denn sein Vater und seine Mutter sind der eine Geist, und seine Brüder sind alle Kinder des einen Vaters, des ewigen Guten.“ In dem Maße, wie man sittliche und geistige Eigenschaften ausdrückt, wie man verständnisvoll, gerecht und barmherzig handelt, wie man ehrbar lebt und die Goldene Regel befolgt, beweist man das Bestehen und die Fortdauer seiner wirklichen Individualität. Man kommt dem Christus-Menschen näher, der die Verkörperung der absoluten Eigenschaften des Gemüts ist und als das göttlich definierte Selbst des Menschen ewig im Gemüt erhalten wird.
Das vermeintliche Böse ist immer bemüht, dieses wirkliche Selbst zu verdunkeln, es zu verdecken, den von Gott geschaffenen Menschen zu verbergen, da sein Widerspiegeln der göttlichen Macht den Untergang des Irrtums bedeutet. Christus Jesus verfehlte nie, an seiner wirklichen Individualität festzuhalten. Was ihn dies kostete, kann niemand sagen; aber seine langen im Gebet verbrachten Nächte und sein schweres Ringen in Gethsemane zeigen uns, wie er bestrebt war, sich bewußt zu bleiben, daß er der Sohn Gottes war. In einer schweren Stunde betete er einmal (Joh. 12:28): „Vater, verkläre deinen Namen!“ Und wir lesen: „Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verklärt und will ihn abermals verklären.“ Wenn wir wollen, daß Gott Seinen Namen oder Sein Wesen in uns verkläre, müssen wir die Individualität, die Er uns gibt, dartun, was für eine Anstrengung, was für Selbstaufopferung es auch kosten mag; wir dürfen nie zulassen, daß sie unserem Blick verdunkelt wird durch ein scheinbares Bewußtsein des Bösen oder des Leidens.
In „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ (Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Vermischtes) erklärt Mrs. Eddy das Verfahren des tierischen Magnetismus, die Einwirkung des Irrtums, der den Anspruch erhebt, die Menschen im stillen durch gedankliche Kraft zu beherrschen. Sie sagt (S. 211): „Die Opfer verlieren ihre Individualität und lassen sich als willige Werkzeuge benutzen, um die Pläne ihrer schlimmsten Feinde — gerade derer, die sie zu ihrer eigenen Vernichtung zu verleiten suchen — auszuführen.“ Und im nächsten Abschnitt sagt sie über diese vermeintliche böse Gewalt: „Andere Gemüter werden durch sie eingeschläfert, und das Opfer ist in einem Zustand halber Individualität, mit einem unklaren Denken, das keine intellektuelle Ausbildung und kein geistiges Wachstum zuläßt.“
Aus solcher Unterweisung scheint klar hervorzugehen, daß man seine wahre Individualität beweisen muß, um zu vermeiden, daß man vom Bösen beeinflußt wird. Dann entdeckt man, daß die Irrtümer, die unsere Führerin auf dieser Seite ihres Buchs erwähnt, Täuschungen sind und man verwirft sie sofort. Wer die Tatsache und das Wunder seiner unsterblichen, sündlosen Individualität schätzt, durchschaut die tückische Bosheit politischer Absichten, die den Menschen ihre individuelle Entschlußkraft zu rauben suchen, und religiöser Gewaltherrschaft, die die Fähigkeit des einzelnen, Gott durch die Erleuchtung des eigenen Bewußtseins zu erkennen, zu unterdrücken sucht. Man widersteht persönlicher Beherrschung, wendet sich ab von Personen und sucht Weisheit und Führung bei dem einen Gemüt. Und man ist ebensowenig willens, andere zu beherrschen, sie also ihres Rechts zu berauben, des Menschen individuelle Einheit mit Gott zu beweisen.
Aufmerksame Beobachter sehen, daß die Welt im allgemeinen in morgenländisches und abendländisches Denken geteilt ist; jenes strebt danach, durch den christlichen Einfluß immer mehr den unsterblichen, unzerstörbaren, individuellen Menschen ans Licht zu bringen, während dieses unter dem Einfluß morgenländischer Lehren die Flamme individuellen Lebens auszulöschen sucht. Nichts könnte weiter voneinander entfernt sein als diese beiden Auffassungen vom Zweck der Gottesverehrung. Die christlichen Lehren sind beweisbar, weil die Befolgung der Zehn Gebote und der Bergpredigt das unzerstörbare vollkommene Selbst des Menschen ans Licht bringt, das dem Gesetz immerdar gehorsam ist. Die Christliche Wissenschaft bringt Klarheit in das Christentum in dem Verhältnis, wie der göttliche Wille Herrschaft über die Menschheit gewinnt durch die Demonstration des Menschen als Gottes Ebenbild. Sie vernichtet sinnliche Begierden und Furcht und die damit verbundenen Krankheiten dadurch, daß sie die sterbliche Auffassung vom Menschen durch die unsterbliche ersetzt.
Wenn das Christentum in der Vergangenheit völliger bewiesen worden wäre, hätte es Schutz und Verteidigung geboten gegen die Übergriffe philosophischer, politischer und religiöser Lehren, die heute das Anerkennen des individuellen geistigen Menschen listig zu verzögern suchen. Auf der Wiedergeburt und Vergeistigung derer, die sich Christen nennen, ruht die Verantwortung für den Frieden der Welt. Weil die Christen gewisse Wahrheiten über Gott und den Menschen kennen, ist es ihre Pflicht, dementsprechend zu handeln.
Der Christliche Wissenschafter, der durch Befolgung des Gesetzes Gottes in seinem Leben seine wirkliche Individualität ausdrückt, steigt höher auf der Stufenleiter des Lebens. Er überwindet Sünde und Krankheit, bessert seine Umgebung, erweitert seine Interessen, vertieft seine Neigungen, erhöht seine Fähigkeiten — öffnet die Pforten des Himmels. Auf diese praktische Art beweist er, daß das Reich Gottes dem Menschen innewohnt, und daß er tatsächlich als individualisierte Idee Gottes im Guten fortbesteht, in unwandelbarem Bewußtsein keinen Tod kennt und ewig regiert wird von dem Vater aller, dessen Individualität sich durch den Menschen unendlich ausdrückt.