Jesus konnte fordern (Matth. 5:48): „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist“, denn er wußte, daß diese Vollkommenheit eine Eigenschaft unserer wahren Wesenheit ist. Mary Baker Eddy sagt in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 518): „Das göttliche Prinzip oder der göttliche Geist umfaßt alles und drückt alles aus, daher muß alles vollkommen sein, ebenso wie das göttliche Prinzip vollkommen ist.“ Es ist also die Tatsache der Vollkommenheit, die ans Licht gebracht, und ein falscher Schein der Unvollkommenheit, der vernichtet werden muß.
Die Sterblichen klammern sich an ein Schein-Ich, das nicht aus der Gottesschöpfung stammt, identifizieren sich mit ihm, und bemühen sich, es zu bessern, anstatt bemüht zu sein, es abzulegen. Wenn wir uns auch nur in einem Punkt von der Materie abgewandt und die geistige Wirklichkeit erblickt haben, sind wir geneigt, Umschau zu halten nach menschlicher Anerkennung. Das wahre Ich ist aber nicht stolz darauf, daß es strahlt. Das Strahlen gehört zu seiner Natur, und es kann nicht anders, als das Licht widerspiegeln, von dem es nicht getrennt werden kann. Jeder vergeistigte Gedanke, jede gutgetane Arbeit erfüllt ja nur unsre Pflicht und Schuldigkeit dem gegenüber, der die Forderung stellt, daß wir uns zu unsrer wahren Wesenheit bekennen und sie zum Ausdruck bringen sollen. Also bedeutet die Forderung, vollkommen zu sein, wie unser Vater im Himmel es ist: das falsche Ich mit all seinem materiellen Denken und Tun abzulegen und in Demut und Freude die Eigenschaften Gottes widerzuspiegeln in all unserem Denken und Handeln.
In wieweit erfüllen wir diese Forderung? Diese Frage sollten wir uns immer wieder vorlegen. Finden wir da nicht etwa, neben dem sorgfältig getanen Werk, eine versäumte Gelegenheit oder gar eine Handlungsweise, die zu der Forderung der Vollkommenheit im Gegensatz steht?
Jesus gibt uns ein wundervolles Gleichnis, um seinen Nachfolgern klarzumachen, wie sie über ihre wohlgetane Arbeit zu denken hätten. Er sagt von dem Herrn, dessen Knecht von der Feldarbeit heimkehrt (Luk. 17:9, 10): „Dankt er auch dem Knechte, daß er getan hat, was ihm befohlen war? Ich meine es nicht. Also auch ihr; wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“ Diese demütige Einstellung, auf die uns unser Meister in seinem Gleichnis hinweist, bringt dem Herzen tiefen Frieden. Sie verbindet uns aufs innigste mit Gott, unserem einzigen Arbeitgeber, und bewahrt uns zugleich vor selbstzufriedenem Ausruhen und vor Müßigkeit.
Unsres Meisters Stellungnahme gegenüber menschlicher Anerkennung und menschlichem Lob ist aus der Antwort ersichtlich, die er dem reichen Jüngling gab, als dieser ihn mit „guter Meister“ anredete. Jesus hob deutlich hervor, daß er Gott allein die Ehre gab für alles Gute, da er wußte, daß es ja nur durch Widerspiegelung des göttlichen Wesens vollbracht werden kann. Als Jesus auf die Zehn Gebote als Verkörperung der göttlichen Forderung hinwies, zeigte die selbstgerechte Antwort des Jünglings, er habe sie alle gehalten von seiner Jugend auf, einen Mangel an Verständnis dafür, was die Gebote fordern. Daß die Forderungen, die in den Geboten enthalten sind, sich mit jeder Entwicklungsstufe vertiefen und erweitern, wird uns bei fortschreitender geistiger Entfaltung und wachsender Erkenntnis immer klarer. So zum Beispiel das Gebot: „Du sollst nicht töten!“ richtet sich auch an diejenigen, die ihren Nächsten niemals mit einer materiellen Waffe niederstrecken würden. Es richtet sich an die, die mit den vergifteten Pfeilen des Hasses, Neides und der Verachtung auf ihren Nächsten zielen. Jesus zeigt uns diese vertiefte Auffassung des mosaischen Gesetzes schon in der Bergpredigt, indem er sagt, wer mit seinem Bruder zürnt, sei des Gerichts schuldig, und stellt damit die mentale Haltung des Zürnens dem Töten gleich.
Und wie steht es mit der Ehrlichkeit? Ist nicht der Neid, das Mißgönnen der Schätze eines Mitmenschen, bereits Diebstahl? — Gehören wir zu den Menschen, die da sagen können, daß sie der Forderung, keine Unwahrheit zu reden, bereits Genüge getan haben, so haben sie einen guten Anfang gemacht. Ist aber die niedere Stufe erreicht, so sollten wir nicht zögern, den Fuß auf die höhere zu setzen; und das geschieht, indem wir jedwedes herabziehende Urteil über unsren Nächsten aufgeben, da es eine Lüge — eine Unwahrheit über das wahre Wesen des Menschen — ist, der das vollkommene Bild seines Schöpfers darstellt.
Wenn wir nun all die Gebote, die Jesus dem reichen Jüngling nannte, aus diesem höheren Gesichtswinkel betrachten, finden wir, daß wir diesen Forderungen gerecht werden können, indem wir das Erste Gebot anwenden. Dieses ist ein wertvoller Maßstab, und wir sollten nicht zögern, ihn anzulegen. Mrs. Eddy sagt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 467): „Die erste Forderung dieser Wissenschaft ist:, Du sollst keine andern Götter neben mir haben.‘ Dieses mir ist Geist.“ Und sie fügt hinzu (S. 340): „Das göttliche Prinzip des ersten Gebots ist die Basis der Wissenschaft des Seins, durch die der Mensch Gesundheit, Heiligkeit und ewiges Leben demonstriert.“ Mit andern Worten, das, was Jesus dem reichen Jüngling zu tun riet: nämlich, alles zu verkaufen und dem Christus, der Wahrheit, nachzufolgen, verkörpert den Gehorsam gegenüber dem Ersten Gebot.
Wenn wir das Erste Gebot halten und keine Götter neben Gott, dem Geist, haben, dann beginnen wir, die Wesenlosigkeit und Unwirklichkeit der Materie zu verstehen, und suchen das aufdämmernde Erkennen zu festigen, indem wir auf die dauernden Grundlagen des Geistes bauen. Wir fangen an zu begreifen, daß alle positiven, ideellen Werte substantiell sind, als Attribute Gottes, und beginnen nach ihnen zu streben.
Der Dieb wird verstehen lernen, daß Ehrlichkeit und Nächstenliebe Substanz sind, und durch diese Erkenntnis wird sein Halt am Guten stärker werden. Er wird einsehen, daß er diese wahre Substanz aufgibt, wenn er materielles Gut entwendet, und er wird sich für das Beständige und Dauernde entscheiden. Dasselbe gilt auch für diejenigen, die glauben, durch sogenannte kleine Unehrlichkeiten einen Nutzen zu erlangen.
Doch auch die Ansprüche versteckten Stehlens — der Mißgunst und der Habgier — verschwinden beim Anlegen des göttlichen Maßstabes, des Ersten Gebotes. Da Gott Geist ist, und der Mensch Sein vollkommenes Bild, können wir alle wahre Substanz durch Widerspiegelung besitzen. Das Verständnis dieser Wahrheit stillt unweigerlich eine jede Notdurft. Begabung, Tugend, Intelligenz, Güte, Fortschritt, Freundschaft und Zuneigung — alles Gute — gehört uns durch Widerspiegelung. Gott drückt sich stets in Seiner ganzen Fülle durch den Menschen aus — wir müssen diese Tatsache nur zugeben und demonstrieren.
Wer sich die Tatsache vergegenwärtigt, daß die Wahrheit — also Gott in Seiner ganzen Vollmacht — sich in Wahrhaftigkeit widerspiegelt, wie Mrs. Eddy uns lehrt, wird nicht versuchen, durch Unaufrichtigkeit, Verdrehung von Tatsachen und durch das Herrichten von Begebenheiten, um einen falschen Eindruck zu erwecken, Vorteile zu erlangen. Er weiß, daß eine solche Handlungsweise, da sie der Wahrhaftigkeit ermangelt, auch ohne Gott und Seine Vollmacht ist und darum keinen Nutzen, sondern nur Verlust bringen kann. Wenn wir nun eine noch vertieftere Auffassung der Wahrhaftigkeit erlangen, so hat die Unwahrheit über die vollkommene Schöpfung Gottes, die in abfälliger Kritik, Gehässigkeit, Nörgelei und dergleichen zum Ausdruck kommt, ebensowenig Bestand in unserem Denken wie die lügenhafte Behauptung: „Ich bin krank“, „Ich bin alt“, „Ich bin schwach“ oder „Ich bin arm“.
Alle Forderungen des täglichen Lebens, wie Ordnung, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewußtsein und dergleichen mehr, erweisen sich aber — bei näherer Betrachtung — als Forderungen des Ersten Gebotes: keine anderen Götter zu haben, neben dem Geist. Darum läßt sich auch ein jeder Verstoß gegen diese Forderungen durch Anlegen des göttlichen Maßstabes berichtigen. Wenn zum Beispiel der Unpünktliche seine Apathie aufgibt, die ihn von der Forderung der Pünktlichkeit abhalten möchte, und wenn er den Maßstab Gottes, des Geistes, anlegt, dann wird er die Pünktlichkeit als geistig substantielle Eigenschaft erfassen und alles daransetzen, sie zum Ausdruck zu bringen. Gott ist die Quelle der Kraft, durch die Seine Forderungen erfüllt werden können.
Durch den beständigen Gebrauch des göttlichen Maßstabes können wir erkennen, inwieweit unser Denken und Tun der göttlichen Forderung entspricht. Welch tiefer Frieden erfüllt das Bewußtsein, wenn wir diese innere Haltung gefunden haben und begreifen lernen, daß weder menschliches Lob noch menschlicher Tadel uns erheben oder enttäuschen kann. Wir sind uns selbst zum Gesetz geworden. Da nur der Allerhöchste in unser Herz zu schauen und unsre Beweggründe zu beurteilen vermag, so kann uns auch nur von Ihm die tiefe Beglückung des Wortes zuteil werden (Matth. 25:21): „Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen; ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude!“