Es wird mitunter behauptet, daß Demut, diese christliche Tugend, ein schwer festzulegender Begriff sei, denn um wahrhaft demütig zu sein, muß man sich dessen gänzlich unbewußt sein. Benjamin Franklin liefert in seiner Selbstbiographie einen seltsamen Beweis für das Ungreifbare dieser Tugend. Er berichtet, daß er eine Liste sittlicher Eigenschaften, die er zu besitzen wünschte, zusammenstellte und täglich sein Betragen prüfte, um zu sehen, ob er im Ausdrücken dieser Eigenschaften Erfolg hatte. Ein Freund, der ein Quäker war, sagte ihm, es fehle ihm an Demut, deshalb fügte er diese seiner Liste bei. Er hatte jedoch niemals das Gefühl, daß er sich diese Tugend zu eigen gemacht habe. Er fand es schwer, den Stolz zu unterdrücken und er kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich stolz auf seine Demut sein würde, wenn es ihm glückte, seinen Stolz zu überwinden!
Die Christliche Wissenschaft gründet die Erlangung wahrer Demut auf die Demonstration der geistigen Wahrheit, die der Demut zugrunde liegt. Diese Wissenschaft offenbart Gott als unendlichen, göttlichen Geist und den Menschen als die beständige Widerspiegelung oder den unaufhörlichen Ausfluß des Geistes. Das Wort Widerspiegelung deutet auf etwas Abgeleitetes hin und das, was abgeleitet ist, hat keine eigene schöpferische Fähigkeit. Es ist lediglich das, wozu sein Prinzip es macht. Dies trifft auf den Menschen zu, der nicht ein Gemüt ist, sondern die Idee des einen Gemütes, Gottes. Überdies hat der Mensch keinen eigenen Willen, sondern er spiegelt den vollkommenen Willen Gottes wider.
Der Mensch wird von Mary Baker Eddy zum Teil als das definiert, „was weder Leben, Intelligenz noch schöpferische Kraft aus sich selbst besitzt, sondern alles seinem Schöpfer Zugehörige geistig widerspiegelt“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 475). Hier haben wir eine wahre und erhabene Darlegung wissenschaftlicher Demut, und wer sie so in der Wissenschaft versteht, findet Demut nicht ungreifbar. Er ist imstande, Gottes Forderung der Demut zu erfüllen, indem er die Annahme aufgibt, ein Sterblicher zu sein, ein eigenes Gemüt zu besitzen, einen persönlichen Willen auszudrücken und imstande zu sein, ein von der einen Quelle des Lebens, dem göttlichen Prinzip, getrenntes Leben zu führen.
Stolz ist das Gegenteil der Demut und er ist das Haupthindernis für den Ausdruck wahrer Demut, wie die zu Anfang erwähnte Darlegung Benjamin Franklins beweist. Stolz ist so ausgesprochen ein Teil des fleischlichen Gemüts, daß die Sterblichen mitunter Scham empfinden, wenn sie nichts haben, worauf sie stolz sein können. Zuweilen jedoch ist gerade dieser Mangel das Mittel, die Fähigkeiten des Geistes, die der Mensch mühelos widerspiegelt, ans Licht zu bringen. Ich denke hier an Abraham Lincoln, der in einem Blockhaus geboren wurde und der, während er heranwuchs, einen harten Kampf um eine Schulbildung führen mußte; doch dem, dank der Reinheit seiner Sehnsucht, große Kräfte der Intelligenz, des Mitgefühls und der Weisheit von dem Allmächtigen zuteil wurden. Ich denke an den Chemiker George Washington Carver, der, obgleich als Sklave geboren, da er ein Neger war, zu großen Höhen an Geschicklichkeit und Nützlichkeit für sein Volk und die ganze Welt emporstieg. Diese Männer, die keinerlei materiellen Dinge hatten, deren sie sich hätten rühmen können, denen jedoch geistige Fähigkeiten innewohnten, wurden von den hemmenden Fesseln des Stolzes befreit. Ihr unbehinderter Ausblick verlieh ihnen die Demut, die die Stimme des einen Gemütes, der Intelligenz, vernehmen und somit die Bedürfnisse der Menschheit befriedigen konnte.
Der demütigste aller Menschen war unser großer Meister Christus Jesus, dessen Sanftmut und Macht sein Verständnis von des Menschen vollständiger Abhängigkeit vom göttlichen Prinzip bezeugte sowie seine Erkenntnis, daß das Prinzip der ganzen Schöpfung Liebe ist. Um die Weisheit und Fähigkeit zu erlangen, die vor ihm liegenden Probleme zu lösen, wandte er sich direkt an seinen himmlischen Vater und nicht an die Vernunft, die auf dem materiellen Augenschein beruhte. Er sagte (Joh. 5:30): „Ich kann nichts von mir selber tun. Wie ich höre, so richte ich.“ In Demut lauschte der Meister auf die Eingebung des Geistes, und da er lauschte, hörte er, und da er recht hörte, war er imstande, zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden. Er demonstrierte die Demut der wahren Widerspiegelung, die beständig die Weisheit und Macht ihrer Quelle verkörpert.
Die Großen zu Jesu Zeiten verachteten die bescheidene Herkunft dieses Gottesmenschen, mit dessen mächtigen Werken sie es trotz ihrer Gelehrsamkeit, ihres Reichtums und ihrer persönlichen Stellung nicht aufnehmen konnten. „Wie kann dieser die Schrift, so er sie doch nicht gelernt hat?“ fragten die Gelehrten (Joh. 7:15). Der Zimmermann von Nazareth und seine Gefährten, die Fischer, besaßen wenig, womit sie Eindruck auf diese weltlichen Kritiker machen konnten. Diese demütige kleine Gruppe schaute jedoch tief in das Reich des Geistes hinein, und war davon überzeugt, daß die einzige Lösung für die Probleme der Menschheit der christliche Weg des Lebens ist. Sie schauten in den Himmel hinein, den sie predigten, und ihre Herzen neigten sich tief in Ehrfurcht.
Diejenigen, die einen Schimmer des Geistes, der Substanz der wahren Menschheit, erhascht haben, wissen, daß ein Sterblicher nichts hat, worauf er stolz sein könnte, sehr viel dagegen, aus dem er herauswachsen muß. Diese Erkenntnis kam unserer Führerin in ihrer bahnbrechenden Arbeit der Gründung der Christlichen Wissenschaft. Sie sagt in „Rückblick und Einblick“ (S. 31): „Ich starrte auf die grobe Unredlichkeit des sterblichen Gemüts und stand tief beschämt davor. Die stolze Stirn erbleichte. Mein Herz neigte sich tief vor der Allmacht des Geistes, und ein zarter Glanz der Demut, sanft wie das Licht eines Mondstrahls, umhüllte die Erde.“ Diese beiden Dinge — die Wahrnehmung der groben Unredlichkeit des Bösen und die Erkenntnis der Unendlichkeit und Allerhabenheit des Vaters aller — drücken die Demut aus, ohne die Gottes Gesetz und Herrschaft nicht bewiesen werden können.
Wenn unsere geliebte Führerin, deren Unschuld und Reinheit sie so erleuchteten, daß durch sie die endgültige Offenbarung der Wahrheit zur Menschheit kam, sagen konnte: „Die stolze Stirn erbleichte“, wie könnte dann einer ihrer Nachfolger auch nur den geringsten Stolz rechtfertigen, eine besondere Art Sterblicher zu sein oder gewissen Maßstäben des sogenannten sterblichen Gemüts zu entsprechen? Wenn sich der Christliche Wissenschafter in Demut von dem Traum abwendet, eine besondere Art Sterblicher zu sein, so wird ihm dieses Anerkennen der Nichtsheit des Irrtums den „zarten Glanz der Demut, sanft wie das Licht eines Mondstrahls“ offenbaren, mit dem die göttliche Wissenschaft die Erde umhüllt. Der Schüler wird erkennen, daß für die Menschheit ein neues Zeitalter angebrochen ist, und daß die Schätze, die er hegen muß, nicht der Stolz auf Intellekt und Wissen, auf ererbte oder erworbene persönliche Stellung, auf eine kostspielige Behausung oder finanziellen Erfolg ist, sondern daß es die einfachen Eigenschaften des Geistes sind, die von der Weltlichkeit verachtet werden. Er wird die Reinheit des Herzens schätzen, die ihre Macht von oben erhält, die Liebe, die tröstet, und die Intelligenz, die Herrschaft über den Traum der Materie kundtut. Er wird seine wahre Identität als Idee des Gemüts erkennen und nicht nur daran glauben, und er wird jene Demut zum Ausdruck bringen, die nur der Widerspiegelung des Gemüts zu eigen ist. Er wird sich seiner Demut nicht bewußt sein, denn er wird sein eigenes Selbst aus den Augen verloren haben im Nachsinnen über eine von der Materie getrennte Welt, über ein Universum des Lichts, der Harmonie und des immerwährenden Lebens — das Himmelreich im Menschen.
