Die Israeliten entwickelten durch Jahrhunderte hindurch allmählich eine Religion, die klarer als irgendeine andere vorchristliche Religion erkannte, daß es nur einen Gott gibt. Doch eine Zeitlang betrachteten sie Gott als ihr ausschließliches Eigentum; und das machte ihre Religion nationalistisch.
Christus Jesus predigte das Evangelium von einem Vater aller Menschen. Aber die Menschheit hat es schwer gefunden, Jesu Lehren in die Praxis umzusetzen, besonders in Zeiten nationaler Kämpfe, wenn jede Seite göttliche Hilfe für sich selber beansprucht. Die Christliche Wissenschaft überwindet diese Schwierigkeit, indem sie zeigt, daß Gott unendliches Gemüt ist, allumfassende Liebe, und daß Er immer all denen zur Verfügung steht, die sich Ihm zuwenden durch vergeistigtes Denken.
Der fleischliche Sinn oder das sogenannte sterbliche Gemüt ist durch und durch eng und begrenzend. Wahrer Fortschritt wird nur insoweit errungen, wie man sich über die allgemeinen begrenzenden Annahmen der Umwelt erhebt. In der Anfangszeit seines Wirkens sagte unser Wegweiser Christus Jesus (Matth. 15:24): „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel.“ Doch später sagte er zu seinen Jüngern (Mark. 16:15): „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur.“ Unsere Führerin Mary Baker Eddy erklärt in ihrem Werk „Vermischte Schriften“ (S. 150): „Gott ist allumfassend, an keinen Ort gebunden, durch kein Dogma bestimmt, keiner Sekte ausschließlich zu eigen.“
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß Gott das alles einschließende göttliche Prinzip ist. Können wir uns dieses Prinzip als auf eine Gruppe beschränkt vorstellen? Gott ist das allumfassende Gute, und Gott ist die göttliche Liebe. Die Liebe kennt keine Grenzen. Jeder kann sich überall der Liebe zuwenden und Heilung finden von menschlicher Disharmonie. Rings um uns mögen Haß und Furcht zu herrschen scheinen, aber Gott kennt sie nicht. Habakuk sagt von Ihm: „Deine Augen sind rein, daß du Übles nicht sehen magst“ (1:13).
Wenn wir uns in der Christlichen Wissenschaft vergegenwärtigen, daß Gott das Böse weder schafft noch kennt, so kommen wir zu der unausbleiblichen Schlußfolgerung, daß der Mensch, Gottes Bild und Gleichnis, Böses weder kennen noch tun kann. Jeder böse oder ungöttliche Gedanke über den Menschen ist falsch, und in dem Maße, wie wir ihn als falsch erkennen, verliert er die Macht, uns zu schaden.
Das ist jedoch nicht genug. Um unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, müssen wir ihn so sehen, wie Gott ihn geschaffen hat — als Sein Bild. Uns selbst und andere von fal-schen Charakterzügen befreien und jeden in der Tat als Gottes Bild und Gleichnis sehen — liebevoll, vertrauenswürdig, intelligent, ungeachtet des menschlichen Bildes — das bedeutet, allumfassende Liebe auszudrücken. Mrs. Eddy sagt uns in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 266): „Allumfassende Liebe ist der göttliche Weg in der Christlichen Wissenschaft.“
Die Frage, die wir uns selbst oft stellen müssen, lautet: „Spiegeln unsere Handlungen allumfassende Liebe wider, oder werden sie durch einengende Betrachtungen bestimmt?“ Das Wort „allumfassend“ bedeutet „alle einschließend ...; unbegrenzt.“ Die Lehren der Christlichen Wissenschaft heben unseren Begriff von Liebe von einer persönlichen, begrenzten Basis empor zu einer unpersönlichen und allumfassenden.
Mrs. Eddy wurde einmal gefragt: „Wie können wir erkennen, ob unsere Liebe persönlich oder unpersönlich ist?“ In „We Knew Mary Baker Eddy“ (Wir kannten Mary Baker Eddy) 1. Band (S. 84) lesen wir: „Ihre Antwort war im wesentlichen: Wenn eure Liebe einen Gegenstand braucht, um sie zu erwekken, so könnt ihr wissen, daß sie persönlich ist; wenn sie frei ausströmt zu allen, so werdet ihr wissen, daß sie unpersönlich ist.“
Selbstlose Liebe zu unserer Familie führt zu harmonischem Zusammenleben; aber wir sollten von dort aus weitere Fortschritte machen und anderen helfen, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Als Jesus einst mit seinen Jüngern redete, wurde ihm gesagt, daß seine Mutter und seine Brüder draußen ständen und ihn zu sprechen wünschten. Wir lesen im Matthäus-Evangelium (12:48-50): „Er antwortete aber ...: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und reckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter.“
Das ist gewißlich ein Gebot, unsere Liebe nicht auf die Unsrigen zu beschränken, sondern sie allumfassend auszudrücken. Geistige Verwandtschaft erweist sich mit denen, die wie wir vom Standpunkt allumfassender Liebe aus denken, und sie brauchen nicht unbedingt menschlich verwandt mit uns zu sein. Auch sollten wir nicht unser Denken und Tun auf die Grenzen unserer eigenen Kirche oder Gemeinde beschränken. Allumfassende Liebe, die vom einzelnen ausgedrückt wird, segnet alle.
Kirchenorganisation ist wichtig, und wie das Heim, bietet auch sie uns Gelegenheit, Liebe in unserer Wirksamkeit auszudrücken. Die Christliche Wissenschaft legt Wert auf regelmäßigen Kirchenbesuch und Kirchenarbeit. Aber, ebenso wie beim Heim, sollten wir unsere Zuneigung nicht auf die Mitglieder einer einzigen Kirche beschränken. Auch müssen persönlicher Ehrgeiz und Eigendünkel aus unserer Kirchenarbeit ferngehalten werden, wenn unser Tun andere segnen soll.
Vor einiger Zeit erwachte der Schreiber dieses Artikels zu der Tatsache, daß sein Mitwirken bei der Kirchenarbeit von dem Wunsch ausging, eine Rolle zu spielen. Dies Erwachen fiel zeitlich zusammen mit einer Veränderung in seinem Geschäft, die beträchtliches Reisen in viele Gegenden der Welt mit sich brachte. Es wurde ihm bald klar, daß alles, was er auf diese Reisen mitnehmen konnte, sein Verständnis von Gott und dem Christus war, und daß örtliche Beliebtheit von sehr geringem Nutzen war.
Als er verstehen gelernt hatte, wie wertvoll es ist, das allumfassende Wesen der Liebe auszudrücken, fand er, daß er überall, wohin er auch kam, Gutes tun konnte. Und zwar ist ihm dieser erweiterte Begriff von Gott seit seiner Rückkehr treu geblieben.
Wir können Gott, die Liebe, nur widerspiegeln, indem wir Liebe zu allen ausdrücken. Wir müssen das tun, um unseren Lebenszweck als Gottes Ideen zu erfüllen. Und so wie der Sonnenstrahl die wesentlichen Eigenschaften der Sonne — Licht, Wärme und Helligkeit — ausdrückt, so bringen wir die Eigenschaften der Liebe zum Ausdruck, wie Freundlichkeit, Sanftmut, Trost und Frieden.
Gott ist die einzige Ursache und der einzige Schöpfer. Er ist allgegenwärtig und segnet alle; denn Er „sieht die Person nicht an“ (Apg. 10:34). Seine liebevolle Fürsorge, seine weise Führung und Sein sicherer Schutz sind immer gegenwärtig für alle, die sich Ihm zuwenden. Das göttliche Gemüt ist allumfassend. Und das Gemüt schließt alle Ideen in sich und regiert ihre Entfaltung.
Wenn wir allumfassende Liebe in unserem individuellen Leben zum Ausdruck bringen, so wird es jeden um uns her berühren und die ganze Welt segnen. Dann wird die Menschheit bereit sein, die Worte des Liedes im Liederbuch der Christlichen Wissenschaft zu verstehen (Nr. 266):
„Mein Gott ist Liebe, alle wir
Sein Ebenbild hier sind;
Das Herz mit Lieb' zu Gott erfüllt,
Liebt jedes Gotteskind.“
