Vergebung ist der höchste Beweis von Liebe, das Zeichen der Barmherzigkeit. Ohne diesen heilsamen Einfluß wird das Herz hart und starr, und Selbstgerechtigkeit — jener häßliche Auswuchs der Selbstsucht — ergreift Besitz vom menschlichen Denken.
In seinem vollkommenen Beispiel Gemeinschaft — Gebet des Herrn“ genannt — lenkte Christus Jesus die Menschen zu Gott, der göttlichen Liebe, der Quelle aller Vergebung, und dann erklärte er die Bedingungen. Der Meister betete (Matth. 6:12): „Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben.
Da die göttliche Vergebung, die uns zuteil wird, im Verhältnis zu unserm Ausdruck wahren Verzeihens steht, ist es hilfreich, die Schulden zu betrachten, von denen wir freigesprochen werden müssen. Der Apostel Paulus faßt es folgendermaßen zusammen (Röm. 13:8): „Seid niemand nichts schuldig, als daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“
Dann ist also das, was wir unserm Bruder unter allen Umständen und bei jeder Herausforderung schulden, allein Liebe. Und wenn auch seine Liebesschuld an uns unbezahlt bleibt, so müssen wir sie ihm mit christusgleicher Vergebung und Barmherzigkeit erlassen. Das Abrechnungsbuch der Erinnerungen darf keinen unbezahlten Betrag unsererseits aufweisen, wenn wir hoffen, göttliche Barmherzigkeit zu erlangen.
Wenn jemand schlecht behandelt, ungerecht verurteilt, erbarmungslos verfolgt worden ist, so sollte er daran denken, daß Unschuld ihre eigene Rechtfertigung ist, und daß einzig die Verpflichtung hat, des Unrechttuers unbezahlten Betrag an Liebe, die er ihm schuldet, zu löschen. Als Mrs. Eddy sich in ihrem Werk „Vermischte Schriften“ auf die Leiden und Belohnungen des Christentums bezieht, gibt sie uns den Rat (S. 281): „So sollten wir alles Schwere, das uns im christlichen Kampf begegnen mag, für nichts achten und statt dessen daran denken, wie arm und hilflos wir ohne dieses Verständnis sein würden und uns immer als Schuldner des Christus, der Wahrheit, betrachten.“
Alles was schwierig oder schmerzvoll ist, alles „Schwere ... im christlichen Kampf“, muß auf sein Nichts zurückgeführt werden, muß als das angesehen werden, was keine Wesenheit oder Wirklichkeit hat. Wenn wir uns unserer Verpflichtungen dem gegenüber erinnern, der uns den Rat gab, daß unsere Vergebung uneingeschränkt sein sollte, ja sogar „siebzigmal siebenmal“ (Matth. 18:22), werden wir nicht dadurch entmutigt werden, daß andere versäumt haben, ihrer Pflicht nachzukommen; sondern wir werden den heilenden, stillen Segen barmherziger Vergebung über sie hauchen. Ja, unsere Schuld an den Wegweiser Christus Jesus wird in der Tat nur bezahlt, wenn wir in seine Fußtapfen treten und stündlich danach ringen, uns dem Maß des vollkommenen Alters zu nähern, das er veranschaulichte.
Das schöpferische Prinzip, der liebende Vater-Mutter Gott von allen, verleiht seinen Kindern die göttliche Eigenschaft der Barmherzigkeit sowie auch die unendliche Gnade, die sie ausübt. Das allumfassende Gesetz der allgegenwärtigen Harmonie zerstört die Sünde, so wie Licht die Dunkelheit zerstört, indem sie dieselbe vernichtet. Das Böse wird in dem göttlichen Wesen des Guten ausgelöscht. Der Mensch, das Bild und Gleichnis Gottes, spiegelt die göttliche Vergebung wider in dem unaufhörlichen Anerkennen der Wirklichkeit und Macht des Guten und der Unwirklichkeit und Machtlosigkeit des Bösen.
Die vielleicht schwierigste Seite des christlichen Kampfes ist, daß die Menschheit scheinbar vernachlässigt, ihre Pflichten liebevoller Freundlichkeit untereinander zu erfüllen. Was für ein Unrecht uns auch zugefügt werden mag, ob unabsichtlich oder mit Absicht, es muß als nichts erachtet werden, denn nur auf diese Weise wird es wirklich vergeben.
Aus einem Bewußtsein, das von Wahrheit und Liebe beseelt ist, kann kein niedriger Impuls, keine irrige Reaktion kommen; kein persönlicher Einfluß kann das Bewußtsein beherrschen, das von dem Christus-Geist durchdrungen ist. Unser immer vergeistigterer Begriff vom Menschen wird die beschmutzten, häßlichen Kleider des persönlichen Sinnes ablegen und unsern Brudermenschen in die strahlenden Gewänder der Heiligkeit kleiden. Wenn wir ihn ohne Flecken oder Makel des Bösen sehen, haben wir wahre Vergebung zum Ausdruck gebracht.
Wenn wir ein Unrecht in irgendeiner Weise rächen, verwirken wir die barmherzige Behandlung unserer eigenen Fehle. Die kleineren Sünden des gedankenlosen Unterlassens sowie die größeren Sünden der absichtlichen Ausführung sind gleich in ihrer Nichtsheit. Sie müssen so bewertet werden, wenn wir unsere Hoffnung auf den Himmel, unser Gewahrwerden von der Gegenwart und Macht Gottes, des unendlichen Guten, behalten wollen.
Keine Handlung der Bosheit oder der Gedankenlosigkeit ist unserer Betrachtung — und noch weniger unserer Empfindlichkeit — wert. Die Krone des Christentums ist wissenschaftliche Liebe, welche das Böse vergibt, weil sie die Wirklichkeit und Allheit des Guten versteht und sich daher siegreich über alle Angriffe erhebt.
In ihre Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 schreibt Mrs. Eddy (S. 19): „Der Christliche Wissenschafter hegt keinen Groll; er weiß, daß ihm das selbst mehr schaden würde als alle Bosheit seiner Feinde. Brüder, so wie Jesus vergab, vergebt auch ihr. Ich sage es voller Freude — niemand kann mir ein Leid zufügen, das ich nicht vergeben könnte.“
Es gibt kein Verletzen in der Liebe. Das Verständnis, daß des Menschen Beziehung zu seiner göttlichen Quelle, Gott, niemals verletzt oder irgendwie unterbrochen werden kann, ist das, was die Harmonie menschlicher Beziehungen aufrechterhält. Dieses Verständnis befähigt uns, die Freundlichkeit wahren Menschentums in selbstlosem Dienste der Menschheit zum Ausdruck zu bringen und in barmherzigster Vergebung alles dessen, das der unsterblichen Liebe ungleich ist.
Eine solche Vergebung verlangt keine Anerkennung ihrer Großmut. Auf diese Weise wird das Gesetz der Liebe vollkommen erfüllt. So wird die Schuld der Liebe voll bezahlt, und der Himmel selbst kommt zu den Erdgebundenen und Beladenen.
Im Liederbuch der Christlichen Wissenschaft finden wir diesen inspirierenden Vers, der besonderen Nachdruck legt auf die Forderung des Meisters in bezug auf die christliche Behandlung des Unrechts (Nr. 163):
„Vergib dem Bruder, so soll dir
Vergeben sein !“ Hör Jesu Wort,
O Mensch, es ändert deine Welt,
Macht dir zum Himmel jeden Ort.
Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.. .. Haltet euch nicht selbst für klug. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. ... Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. — Römer 12:10—21.
