Ein Teil der Begriffsbestimmung, die Mary Baker Eddy in ihrem Werk „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ für das Wort „Gemüt“ gibt, lautet: „Die Gottheit, welche umgrenzt, welche aber nicht umgrenzt ist“ (S. 591). An einer andern Stelle in ihren Werken erklärt Mrs. Eddy, daß Gott zu mächtig sei, als daß Er umgrenzt werden könne, daß Er jedoch die Individualität, die Er als Seine Widerspiegelung umfängt, bestimme. Diese Individualität ist von höchstem Interesse für den Christlichen Wissenschafter, welcher weiß, daß seine Erlösung aus dem sterblichen Daseinsbegriff von der Demonstration seiner geistig umgrenzten Selbstheit, die im göttlichen Gemüt unversehrt besteht, abhängig ist. Er weiß, daß nicht allein seine Wesensart klar und individuell ausgeprägt ist, sondern daß auch seine Funktionen, seine Beziehungen zur Umwelt und seine Erlebnisse im Reiche Gottes vom Vater aufs genaueste bestimmt werden.
Niemand kann der Vorsehung Gottes entgehen, und es sollte unser Bestreben sein, uns der Offenbarwerdung unserer wahren Selbstheit zu weihen, welche die Natur und Macht der Gottheit widerspiegelt. Mrs. Eddy sagt in ihrem Werk „Vermischte Schriften“ (S. 103): „In der Wissenschaft werden Form und Individualität niemals verloren; Gedanken sind umrissene, individualisierte Ideen, die immerdar als faßbare, wahre Substanz dem göttlichen Gemüt innewohnen, da sie ewig bewußt sind.“ Wir denken an diese Worte mit Freuden, wenn wir die geistige Armut des sterblichen Daseins erkennen, und das begrenzte Erleben, die entartete Mentalität, die häßliche Wesensart und die unerwiderten Zuneigungen so vieler Sterblicher beobachten. Die Wissenschaft zeigt, daß die Vollkommenheit des Charakters sowie auch des Erlebens im göttlichen Gemüt verbleibt und die Demonstration jedes einzelnen von uns erwartet.
Die Ungerechtigkeit des bösen sterblichen Gemüts, das für einige von seinen Vorstellungen Verstand, für andre aber Dummheit vorsehen möchte, für einige Gesundheit, für andere Krankheit, für einige Reichtum, für andere Armut — muß als ein Hirngespinst des sterblichen Traums verstanden werden, aus welchem die Menschheit durch die Wissenschaft erweckt wird. Die göttliche Vorsehung ist die einzige Tatsache des Seins und steht allen Menschen zur Verfügung. Gott ist gerecht, und Seine Vorsehung schließt in unbegrenztem Maße geistig Gutes für jede einzelne bewußte Individualität in sich.
Das Maß der Gottheit ist die Unendlichkeit. Alles, was Gott ist oder was Er tut, offenbart Seine Unendlichkeit. Wir begreifen bis jetzt nur wenig von Seiner Güte; doch werden wir sie besser verstehen lernen, wenn wir in immer zunehmendem Maße Sein Wesen zum Ausdruck bringen. Die Attribute Gottes sind grenzenlos in der Reichweite ihres Wirkens sowohl wie auch in bezug auf die Tiefe und Vollendung ihrer Qualität. Die Unendlichkeit des Gemüts wird in Gottes gesamter Schöpfung widergespiegelt. Wir müssen den Menschen an seinem Schöpfer messen; denn der Mensch ist das Ebenbild des göttlichen Gemüts. Wir müssen aufhören, unser Leben, unsre Beschäftigung, unsre Umgebung, unsre Beziehungen zur Umwelt nach dem Augenschein der körperlichen Sinne zu bemessen. Mrs. Eddy sagt in „Wissenschaft und Gesundheit“ (Seite 208): „Der materielle Sinn definiert alle Dinge in materieller Weise und hat eine endliche Auffassung von dem Unendlichen.“
Die göttliche Definition ist die einzig wirkliche — nämlich die Definition, die die Christliche Wissenschaft uns liefert, und die uns aufruft zu der Demonstration der unendlichen Fähigkeiten des wahren Menschentums. Während das sogenannte sterbliche Gemüt sich einen Plan zurechtlegt für die Gaben und das allgemeine Verhalten eines Menschen, wobei es seine Mentalität begrenzt und ihm ein bestimmtes Muster für seine charakterlichen Anlagen zudiktiert, stellt das göttliche Gemüt seinen Plan für die Fähigkeiten und die Wesensart des Menschen einzig und allein in Begriffen der Vollkommenheit auf. Wir sollten keine menschliche Begrenzung im Charakter oder Erleben als endgültig betrachten, oder etwa annehmen, daß sie nicht geheilt werden könne. Mit Hilfe der göttlichen Wissenschaft ist es uns möglich, schließlich die unendliche Entfaltung von Intelligenz und Harmonie, von Freude und Gesundheit zu erreichen.
Wenn das sterbliche Gemüt Anspruch darauf erhebt, unser Erinnerungsvermögen zu umgrenzen oder auf ein paar Einzelheiten zu beschränken, so sollten wir diesem Gedankenzustand mit der Tatsache entgegentreten, daß der Mensch die Allwissenheit des göttlichen Gemüts widerspiegelt. Das göttliche Gemüt weiß alle Dinge; es weiß sie alle zusammen, und es weiß sie ewiglich. Wenn diese große Tatsache auch nur im geringsten verstanden wird, nimmt unser menschliches Gedächtnis an Umfang und Stärke zu.
Falls das sterbliche Gemüt den Anspruch erheben sollte, unsre Intelligenz in manchen Punkten zu umgrenzen, wie einem beschränkten Horizont, mitunter mangelnder Weisheit oder einer Unfähigkeit, etwas, das man eigentlich wissen sollte, zu begreifen und zu behalten, so können, ja müssen wir diese falsche Auffassung zerstören durch das Verständnis, daß es nur eine einzige Intelligenz gibt, und daß der Mensch diese zum Ausdruck bringt. Die Intelligenz des göttlichen Gemüts ist unendlich, und jede der Ideen des Gemüts offenbart auf individuelle Weise unbegrenzte Intelligenz. Die Macht der Intelligenz wird von einem Menschen demonstriert, der sich vergegenwärtigt, daß Liebe und Rechtschaffenheit grundlegende Bestandteile wirklicher Intelligenz sind, und daß es ohne die Eigenschaften Gottes keine Intelligenz gibt.
Wenn wir uns scheinbar in unserm Verhalten Selbstsucht, Sinnlichkeit oder vielleicht sogar begrenzte Güte zum Vorbild genommen haben, kann ein solches falsches Vorbild veranlaßt werden, der Wahrheit zu weichen, daß der Mensch das Ebenbild Gottes ist. Selbstlose Liebe, Reinheit und große Güte kennzeichnen wirkliches Menschentum; und niemand sollte sich dazu verleiten lassen, das als Vorbild für sein Betragen anzunehmen, was Vererbung, Umgebung und Erziehung ihm vorzuschreiben trachten.
Unser Umriß als sterbliche Wesen ist nichts weiter als die sterbliche Vorstellung, die der Irrtum in bezug auf uns hat. Dies menschliche Bild ist niemals so starr und unerbittlich, wie es scheinen mag; denn das Böse ist unwirklich; und die menschliche Natur ist zugänglich für den Einfluß der göttlichen Wissenschaft. Christus Jesus gewährte uns einen kurzen Lichtblick auf die individualisierte Idee, wie die Gottheit sie entworfen hat. In ihm sehen wir, wie das Menschliche vom Göttlichen umfangen ist. In ihm wird der Sieg des Göttlichen über das Menschliche offenbar. Der Meister kannte das göttliche Vorbild der Vollkommenheit und betätigte es mit Macht und großer Wirksamkeit. Seine Gleichnisse veranschaulichen die Fähigkeit der Menschen, ins Himmelreich zu gelangen, wo des Menschen Wirken und Wesen die Widerspiegelung der Gottheit darstellt. Als Jesus seine Jünger auf die Macht der göttlichen Wissenschaft, des Trösters, Begrenzungen zu überwinden, hinzuweisen suchte, sagte er zu ihnen (Joh. 16:14, 15): „Derselbe wird mich verklären; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.“
Durch die Offenbarung des Trösters hat sich uns die Vorsehung des Vaters klar enthüllt. Das Gotteskind besitzt unendliche Güte, Macht und Wirksamkeit. Laßt uns also in aller Demut Anspruch erheben auf das Erbe der Vollkommenheit, das immerdar kennzeichnend ist für die Kinder Gottes.
 
    
