„Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang,
Sie träufelt wie des Himmels milder Regen
Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt.
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und ird'sche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht.“
Diese Eigenschaft der Gnade oder Barmherzigkeit, die so treffend von Shakespeare beschrieben wird, ist kennzeichnend für einen guten Christen. Christus Jesus sagte (Matth. 5:7): „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Wie können wir Barmherzigkeit bekunden? Wenn wir im Umgang mit unseren Mitmenschen langmütig und versöhnlich, erbarmungsvoll und freundlich sind, so bringen wir gewißlich Barmherzigkeit zum Ausdruck; die größte Barmherzigkeit jedoch besteht darin, daß wir, statt in unserem Denken an der Vorstellung von einem kranken, sündigen Sterblichen festzuhalten, diesen falschen Augenschein durch die geistige Idee ersetzen und gemäß der Christlichen Wissenschaft den vollkommenen Menschen sehen — das Bild und Gleichnis Gottes.
Gottes Gnade oder Barmherzigkeit wird allen Menschen ohne Ansehen der Person verliehen. Da Gott die Liebe ist, ist Gnade oder Barmherzigkeit eine dem Wesen Gottes natürlich innewohnende Eigenschaft. Der Mensch als Ausdruck Gottes ist von Natur aus barmherzig. Da Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eng miteinander verknüpft sind, wird die menschliche Fähigkeit, barmherzig zu sein, die göttliche widerspiegeln, wenn der einzelne sich bemüht, auch der Gerechtigkeit Gottes nachzueifern. Wenn wir solche Eigenschaften wie Liebe, Barmherzigkeit, Verständnis und dergleichen zum Ausdruck bringen und sie auch in anderen sehen — Eigenschaften, die der wirkliche Mensch als die Widerspiegelung Gottes bekundet — dann wird es uns leichter fallen, angebliches Unrecht zu vergeben.
Mrs. Eddy schreibt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 248): „Laßt Selbstlosigkeit, Güte, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Gesundheit, Heiligkeit und Liebe — das Himmelreich — in uns herrschen, so werden Sünde, Krankheit und Tod abnehmen, bis sie schließlich verschwinden.“ Welch eine herrliche Verheißung ist dies doch! Durch das Entfalten solch gottähnlicher Eigenschaften können wir danach streben, das Himmelreich in uns herrschen zu lassen, und der schließliche Lohn für die Demonstration unserer wahren Selbstheit besteht in dem Verschwinden von Sünde, Krankheit und Tod aus unserer Erfahrung. Wenn unser Bewußtsein von Barmherzigkeit durchdrungen ist, dann bleibt kein Raum für Haß, Neid gegenseitige Beschuldigungen oder Furcht. Und nicht nur werden wir selbst dadurch gesegnet, sondern alle, mit denen wir in Berührung kommen, empfinden die barmherzige Berührung der Liebe Gottes, die von uns ausgeht.
Ein hervorragendes Beispiel erbarmungsvollen Vergebens wird in dem biblischen Bericht von Josephs Behandlung seiner Brüder geschildert, die, getrieben von Eifersucht und Selbstsucht, versucht hatten, ihn umzubringen. Trotz der vielen unverdienten Prüfungen, die Joseph durchzumachen hatte, führte ihn sein tiefes Verlangen, Gott zu dienen, immer wieder aus den Schwierigkeiten heraus, und er erlangte dadurch zunehmendes Ansehen unter den Menschen. Als er als Regent Ägyptens die Möglichkeit hatte, seinen Brüdern ihre heimtückische Handlungsweise zu vergelten, hegte er kein solches Verlangen. Statt dessen versorgte er sie voller Erbarmen mit allem, dessen sie bedurften, und überschüttete sie mit Geschenken. Die Liebe, die er für sie empfand, sowie auch seine Freude, sie wiederzusehen, bewiesen, daß die Eigenschaften der Barmherzigkeit und Vergebung starke Kräfte in seinem Denken darstellten.
Josephs Weigerung, auf die von seinen Brüdern zum Ausdruck gebrachten Irrtümer zu reagieren, muß ihm das Vergeben und Vergessen sehr erleichtert haben, und so war er, ohne erst mit sich kämpfen zu müssen, barmherzig und liebevoll. Josephs erbarmungsvolles Denken erwies sich als hilfreich und öffnete den Weg, so daß Gottes Gnade über ihn ausgeschüttet werden konnte.
Wir lesen in den Psalmen (103:2–4): „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“
Da Gegensätze wie Irrtum und Wahrheit nicht gleichzeitig im Denken beherbergt werden können, ist es klar, daß wir, wenn wir an dem vollkommenen Begriff vom Menschen festhalten, in unserem Denken nicht einen falschen Begriff vom Menschen beherbergen können. Wenn wir in uns oder anderen scheinbar gedankliche Eigenschaften oder körperliche Symptome sehen, die dem Ausdruck von Gottes Wesen unähnlich sind, so können wir sie sofort als Vorstellungen des sterblichen Gemüts — als Illusionen — klassifizieren und erkennen, daß es sich nicht um Ideen oder Kundwerdungen Gottes handelt. Diese Klassifizierung führt zu der unumgänglichen Schlußfolgerung, daß diese irrigen Kundwerdungen nur falsche Annahmen sind — ohne Grundlage oder Macht.
Solange eine Illusion als Wirklichkeit angesehen wird, bleibt sie in unserer Vorstellung etwas, von dem wir versuchen müssen, uns freizumachen. Wenn die Illusion aber als das erkannt wird, was sie ist, so verstehen wir, daß sie wesenlos ist und keine Macht hat fortzubestehen, kein Gesetz, das sie unterstützen, und keinen Platz, den sie einnehmen könnte. Wenn wir diesen Punkt der Erkenntnis erreicht haben, brauchen wir nicht länger dafür zu arbeiten, von etwas frei zu werden, sondern wir halten vielmehr an der gegenwärtigen Vollkommenheit des Menschen fest, bis die Illusion verscheucht ist, weil nun der Glaube an ihre Wirklichkeit fehlt. Solch ein folgerichtiges Denken stellt eine äußerst wirksame Kundwerdung von der Barmherzigkeit Gottes dar; denn es segnet nicht nur den, der an der Wahrheit festhält, sondern segnet selbst die, die seine Feinde zu sein scheinen, so daß er schließlich findet, daß er keine Feinde hat.
Der sechste Glaubenssatz der Christlichen Wissenschaft legt einem jeden Christlichen Wissenschafter die Verpflichtung auf, barmherzig zu sein. Er lautet (Wissenschaft und Gesundheit, S. 497): „Und wir geloben feierlich, zu wachen und zu beten, daß das Gemüt in uns sei, das auch in Christus Jesus war; andern zu tun, was wir wollen, daß sie uns tun sollen, und barmherzig, gerecht und rein zu sein.“
Wenn wir stets an der Idee des vollkommenen Menschen festhalten, bewahren wir die hohe geistige Gesinnung, die Christus Jesus so klar demonstrierte. Wir sehen andere so, wie wir möchten, daß sie uns sehen sollen. Diese barmherzige Einstellung wird uns gerecht und rein machen, und mit ihr können wir hier und jetzt die Erfüllung jener Erwartung des Psalmisten erleben (Ps. 23:6): „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
