Eine Freundin bat uns einmal, Verwandte von ihr aufzusuchen, als wir eine Reise in das Land, in dem sie lebten, unternahmen, und sie zeichnete uns einen Plan, damit wir zu ihnen finden würden. Als es so weit war, daß wir dem Plan folgen mußten, stellten wir fest, daß der Tatsache Rechnung zu tragen war, daß sie um so mehr Anhaltspunkte eingezeichnet hatte, je näher sie beim Aufzeichnen unserer Route der alten Heimat gekommen war. So war der Maßstab immer größer geworden, damit alles Platz hatte.
Das war harmlos und amüsant. Eine persönliche Einstellung zu einem Lageplan ist zwar der Kartographie nicht förderlich, aber dieser Fall zeigt, wie das persönliche Interesse das Urteilsvermögen irreführt. Dasselbe gilt für persönliche Vorurteile. Je näher eine Situation unserer eigenen Interessensphäre rückt, um so wichtiger erscheint sie uns.
Aber oft ist der Einfluß des persönlichen Sinnes viel heimtückischer und schwerwiegender, und manchmal scheint er jede Möglichkeit einer ausgewogenen Entscheidung auszuschließen. Manche Menschen haben das Empfinden, daß sie stets zu sehr verstandesmäßig, andere, daß sie zu sehr gefühlsmäßig urteilen; und es verbindet sich im gleichen Menschen scheinbar nur selten Verstandesschärfe mit Großherzigkeit.
Mrs. Eddy erklärt jedoch in ihrem Buch „Vermischte Schriften“ (S. 290): „Wann wird die Welt aufhören, Angelegenheiten von einer persönlichen, mutmaßlichen und mißverständlichen Auffassung der Dinge aus zu beurteilen!“ Ein jeder kann die Fähigkeit pflegen, unpersönliche Urteile zu fällen, und durch diese Fähigkeit lernen wir, uns selbst ebenso objektiv zu beurteilen wie jeden anderen und jeden anderen so milde zu beurteilen wie uns selbst.
Die Christliche Wissenschaft [Christian Science] macht klar, daß der Mensch als Gottes Gleichnis, wie ihn die Bibel beschreibt, nicht ein sündhafter Sterblicher ist, der von seiner eigenen Urteilsfähigkeit abhängig ist. Er ist weder schwach noch halsstarrig, weder sarkastisch noch einfältig, und er ist niemals verwirrt oder unsicher. Als die Widerspiegelung des göttlichen Prinzips, Gottes, ist der Mensch in seinem Urteil genau, folgerichtig und vorurteilsfrei. Da er der Ausdruck der Seele ist, besitzt er Wärme, Intuition und Hochherzigkeit. Und da er von dem einen Gemüt ausgeht, ist er verständnisvoll, weitblickend und ein praktischer Mensch. Vor allem aber besitzt er alle diese Fähigkeiten in ausgeglichenem Maße.
König Salomo empfand das Bedürfnis nach unpersönlichem Urteil, als er zu Beginn seiner Regierungszeit um ein verständiges Herz betete. Sein Gebet wurde erhört, und die Bibel berichtet später (1. Kön. 5:9): „Gott gab Salomo sehr große Weisheit und Verstand und reichen Geist wie Sand, der am Ufer des Meeres liegt.“
Der König hatte sehr bald Gelegenheit, seine neue Urteilsfähigkeit zu prüfen, denn es kamen zwei Frauen zu ihm, die sich wegen eines toten und eines lebendigen Kindes stritten. Da er nicht feststellen konnte, welche der beiden Frauen die Mutter des lebendigen Kindes war, traf er die aufsehenerregende Entscheidung, das Kind mit einem Schwert in zwei Teile zu teilen und jeder Frau einen Teil zu geben. Sofort gab die wirkliche Mutter lieber ihren Anspruch auf, als ihr Kind sterben zu sehen, und nach diesem Beweis spontaner, selbstloser Liebe schloß Salomo den Fall mit den Worten ab (1. Kön. 3:27): „Gebet dieser das Kind lebendig und tötet's nicht; die ist seine Mutter.“
Derartig schwerwiegende Probleme mögen nicht jeden Tag oder vielleicht überhaupt nicht vorkommen, aber jeder Mensch muß lernen, ein scharfsichtiges Urteil zu fällen, wenn er vor Irreführung oder Täuschung sicher sein will. Christus Jesus sagte einst von sich zu den Pharisäern (Matth. 12:42): „Hier ist mehr als Salomo.“ Und aus seinem „verständigen Herzen“ traf er Urteile, die in bezug auf Korrektheit, Weisheit und Erbarmen niemals übertroffen worden sind.
Für Jesus waren Krankheit und Leiden ebenso falsche Ansprüche des Irrtums wie eine Täuschung in irgendeiner anderen Form. Daher konnte er diese Suggestionen mit Entschiedenheit verwerfen und ihren Opfern Heilung und Erneuerung bringen. Er schenkte ihnen den Trost, der Mut und Stärke verleiht, und nicht das Mitleid, das Schwachheit und Leiden sich ungehemmt ausbreiten läßt.
Es war unmöglich, Jesus irrezuführen oder an seine Gefühle zu appellieren, und doch war er nicht abgestumpft, niemals hart oder teilnahmslos. Er beurteilte jede sich ihm darbietende Situation sofort nach ihrem wahren Wesen.
Der Meister heilte unter anderem eine Frau, die den Saum seines Gewandes berührt hatte. Mrs. Eddy sagt darüber (Die Einheit des Guten, S. 57): „Als Jesus sich umwandte und sagte: ‚Wer hat mich angerührt?‘, muß er den Einfluß, der von dem Gedanken des Weibes ausging, gefühlt haben; denn es steht geschrieben, daß er die Kraft fühlte, ‚die von ihm ausgegangen war‘. Sein reines Bewußtsein unterschied klar und fällte dieses untrügliche Urteil; aber er nahm ihren Irrtum werder aufgrund von Zuneigung noch Schwäche an, denn der Irrtum wurde aufgedeckt und verworfen.“
Jesus nahm die Berührung des ehrlichen Glaubens ebenso gewiß wahr, wie Salomo das Flehen selbstloser Liebe anerkannt hatte. Jesus hatte ein starkes Empfinden für die Wahrheit, aber für den Irrtum hegte er kein Mitgefühl. Das reine Bewußtsein Jesu entsprach nicht einem naiven Zustand des menschlichen Denkens, das den Machenschaften des Irrtums zum Opfer fällt; er war sich vielmehr der Allheit und Allmacht der Wahrheit bewußt, und in diesem Bewußtseinszustand wird der Irrtum als unwirklich verworfen.
Wenn sich der Irrtum in irgendeiner Form dem menschlichen Denken darbietet, sei es als Sünde, Krankheit, Feindseligkeit oder Begrenzung, so wird stets ein Urteilsspruch gefordert. Denjenigen, die ein weiches Herz haben, mag der Anspruch des Irrtums ein leidender Sterblicher zu sein scheinen, der unser Mitleid verdient, oder ein grausamer Sterblicher, den man fürchten muß. Für diejenigen, die sich eines starken Herzens rühmen, mag er einen hilflosen Sterblichen darstellen, der verteidigt werden muß, oder einen mächtigen Sterblichen, dem es zu widerstehen gilt. Für diejenigen, die sich rühmen, daß sie von ihrem Verstand beherrscht werden, wird der Anspruch des Irrtums zweifellos unter der Maske eines törichten Sterblichen kommen, der verächtlich zu behandeln ist, oder als ein kluger Sterblicher, der zu bewundern ist.
Aber so lange wie der Irrtum imstande ist, eine Reaktion hervorzurufen, sei es Schmerz, Aufregung, Empörung, Opposition, Geringschätzung oder Ergebung, schleicht sich der persönliche Sinn in unsere Beurteilung ein, und der Irrtum wird so lange seine Wirkung auf uns auszuüben scheinen, wie dieser persönliche Eindruck währt. Dem Irrtum muß jede Beziehung zum Menschen abgesprochen werden, damit er weder einen Fürsprecher noch einen Zuhörer hat. Dann brauchen wir nicht zwischen dem einen und dem anderen Sterblichen zu entscheiden, sondern die Entscheidung liegt zwischen Wahrheit und Irrtum, und hier ist die Wahl klar.
Ein reines Bewußtsein oder ein verständiges Herz haben heißt empfänglich genug sein, um lebhaft auf alles zu reagieren, was echt und gut ist, und etwas anderes gar nicht aufzunehmen. Wer so unpersönlich urteilt, bei dem sind Drohungen, Schmeicheleien oder Ausbeutungsversuche erfolglos, denn er hat gelernt, Irrtum weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen, weder aufgrund von Übereinstimmung noch aus Schwäche anzunehmen.
