Das Gebet in der Christlichen Wissenschaft besteht in erster Linie darin, sich aus vollem Herzen an Gott zu wenden, um ein klareres Verständnis Seines Wesens zu erlangen. Es bedeutet, daß wir unser Denken vor dem allwissenden göttlichen Gemüt aufrichtig und in vorbehaltloser Bereitschaft dafür öffnen, das zu tun, wozu uns die Liebe anleitet. In gewissem Sinn spricht das Gebet uns also mit den Wahrheiten an, die uns die Wissenschaft des Christus gelehrt hat. Es ist ein bewußtes Aufgeben materialistischer Annahmen, die sich in unser Denken eingeschlichen haben mögen. Es ist ein sehnliches Verlangen und eine ehrliche Entscheidung, der geistigen Führung des Christus, der Wahrheit, zu folgen, wobei Verhalten und Tätigkeit mit seinem Gesetz genau übereinstimmen.
Diese Gemeinschaft mit Gott kann am besten in der andächtigen Stille des eigenen Denkens vollzogen werden; aber sie kann und muß oft unter Umständen erfolgen, die im allgemeinen als der stillen Meditation nicht dienlich angesehen werden. Das Gebet in der Christlichen Wissenschaft unterscheidet sich jedoch von bloßer Meditation und geht darüber hinaus. Während Meditation wohl tiefes Denken, Versenkung und gelegentlich sogar ein gewisses Maß an träumerischer Vision umfaßt, so fehlt es ihr doch an Tätigkeit. Wahres Gebet schließt nicht nur die geistige Reaktion des menschlichen Bewußtseins auf das Tätigwerden des Christus ein, sondern auch Tätigkeit in Übereinstimmung mit dieser Reaktion.
Die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, stellt das Wesen des wahren Gebetes fest, wenn sie in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S.9) schreibt: „Das folgerechte Gebet ist das Verlangen, recht zu tun.“ Wenn, wie sie an anderer Stelle darlegt, irriges Denken sich als irrige Tätigkeit ausdrückt, dann wird Wahrheit im Denken, auf das Geheiß der Wahrheit, durch rechte Tätigkeit ausgedrückt werden. Wir müssen uns unerschütterlich an die Wahrheit halten, sowohl in unseren Wünschen als auch in den Taten, durch die wir diese Wünsche erfüllen.
Wenn Gebet nicht rechte Tätigkeit bewirkt, ist es vergeblich. Gott, an den sich das Gebet richtet, ist keine untätige Gegenwart. Er spricht unaufhörlich zu uns, sei es in der physischen Stille oder mitten im Lärm der Maschinen, und gibt uns Seine Ideen, damit sie uns zu rechter Tätigkeit inspirieren mögen.
Eine solche Tätigkeit kann auf vielerlei Art erfolgen. Im Krankheitsfalle kann es sich um ein entschlossenes Abwenden des Denkens vom Körper und seinen mesmerischen Symptomen handeln und um ein Hinwenden zur Vergegenwärtigung und beharrlichen eindeutigen Bejahung der wahren Identität des Menschen als der stets gesunden individuellen Widerspiegelung des schöpferischen Geistes, des göttlichen Prinzips.
Im Falle gestörter menschlicher Beziehungen besteht diese Tätigkeit darin, ein geistig geläutertes Bewußtsein aus der Wirrnis des persönlichen Sinnes, sei es nun des eigenen oder des anderer Menschen, zu der beglückenden, befreienden Wahrheit zu erheben, daß das Gesetz der göttlichen Liebe die Beziehungen zwischen den Kindern Gottes und folglich ihr Verhalten untereinander regiert. Das klare Verständnis dieser Wahrheit, die erneut in uns aufdämmert, wenn wir uns von ganzem Herzen im Gebet an Gott wenden, wird uns veranlassen, unseren Mitmenschen, seien es nun Verwandte oder Geschäftspartner, nicht mit Mißtrauen und der Erwartung von Spannungen, sondern mit Freundlichkeit und der sicheren Erwartung des Guten zu begegnen.
Wir müssen jedoch eingedenk sein, daß die Regel Christi Jesu: „Wie ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, also tut ihnen auch“ (Luk. 6:31), die Initiative eindeutig in unsere Hände legt. Eine Änderung im Verhalten anderer zu erwarten, ohne zuerst eine radikale Änderung in unserem eigenen Denken zu vollziehen, zeugt von einem Mißverstehen der Weisungen der Liebe, wenn nicht von einem Widerstand dagegen.
Wenn wir in einer Angelegenheit, die unserer Entscheidung harrt, um Führung beten, dann dürfen wir dabei keine andere Absicht haben als die, die Führung, um die wir bitten, anzunehmen und danach zu handeln.
Was jedoch auch immer der unmittelbare Anlaß für unsere Anrufung der göttlichen Hilfe sein mag, unsere Bitte muß aus den Tiefen unserer rückhaltlosen Bereitwilligkeit kommen, zu tun, was Gott uns sagt, wenn wir sie erfüllt wissen wollen. Es gibt keinen Raum für Vorbehalte des persönlichen Sinnes, wenn wir dem allwissenden, all-leitenden göttlichen Prinzip von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Wir können uns nicht von einem Gesetz ausschließen, von dem wir erwarten, daß andere es befolgen.
Das Verständnis, daß Gemüt, Gott, immerdar tätig ist und daß wir in unserem wahren Sein Seine getreuen Widerspiegelungen sind, wird den Schleier der Interesselosigkeit, den Mesmerismus der Unwilligkeit, zu handeln, aufheben. Unsere Führerin schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 3): „Wer würde sich vor eine Wandtafel stellen und das Prinzip der Mathematik bitten, das Problem zu lösen? Die Regel besteht bereits, und unsere Aufgabe ist es, die Lösung auszuarbeiten. Sollen wir das göttliche Prinzip aller Güte bitten, Seine Arbeit zu tun? Seine Arbeit ist getan, und wir brauchen uns die Regel Gottes nur zunutze zu machen, um Seinen Segen zu empfangen, der uns dazu befähigt, zu schafen, daß wir selig werden.“
Es ist demnach offensichtlich, daß Gebet nicht ein bloßes, unbestimmtes Warten darauf ist, daß Gott „Seine Arbeit“ tue, während wir träge danebenstehen. Gebet ist auch nicht ein bequemer Wunsch, irgendeiner rechtmäßigen Verantwortung zu entfliehen, sondern es ist das ernsthafte Verlangen nach der Intelligenz und Stärke der Liebe, die wir benötigen, um sie zu tragen. Wenn dies dem menschlichen Sinn auch schwierig oder mühsam scheinen mag, weil dabei vielleicht ein persönliches Opfer von uns gefordert wird, dann brauchen wir nur des Beispiels eingedenk zu sein, das der Wegweiser Christus Jesus für uns aufgestellt hat, als die Erfüllung der letzten von Gott verordneten Verantwortung alles von ihm forderte, was er zu geben hatte. Er betete (Matth. 26:39): „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Können wir, deren Verantwortung keinem Vergleich mit der seinen standhalten kann, es uns leisten, weniger zu tun?
Der egoistische Wunsch, sich in den Elfenbeinturm einer kalten Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen der Menschen zurückzuziehen, ist das gerade Gegenteil des Gebetes eines folgerechten, innigen Verlangens, dem Plan Gottes zu dienen, den Er für alle Seine Kinder hat, ob wir sie kennen oder nicht, und des Verlangens, die Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit der göttlichen Liebe durch eine allumfassende tätige Zuneigung zu allen Mitgliedern der menschlichen Familie zu demonstrieren.
Da wir in der absoluten Wahrheit unseres Seins alle Eigenschaften des göttlichen Gemüts widerspiegeln, sollte das Gebet uns zu der Notwendigkeit einer ernsthaften Selbstprüfung erwecken, damit wir entdecken können, ob es irgendeine Gabe Gottes gibt, die wir aus Versehen versäumt haben, uns bewußt zu eigen zu machen, oder ob wir gedankenlos oder absichtlich irgendeine Seiner Forderungen übersehen haben. Diese gebeterfüllte Tätigkeit der Selbstprüfung wird uns veranlassen, uns der geistigen Disziplin des Christus zu unterwerfen, was allein ein von Gott regiertes Tätigsein möglich macht.
Mit welch wundervoller Klarheit tat Moses die zeitlose Wahrheit kund, daß Gottes Führung stets denjenigen offenbart wird, die von ganzem Herzen danach zu handeln trachten (5. Mose 30:14): „Es ist das Wort gar nahe bei in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust.“