Sehr eindrucksvoll beschrieb Christus Jesus den Geist und das Wirken des Christus, als er den in der Synagoge Versammelten seinen eigenen Lebenszweck in den Worten des Propheten Jesaja darlegte (Luk 4:18): „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehend werden, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen.“ Diese Erklärung umfaßt den Beweggrund und den Leitstern der Ausübung der Christlichen Wissenschaft.
Die ganze Laufbahn des Meisters zeigt, daß er hier mit „Gefangenen“ nicht die Insassen der Gefängnisse meinte, sondern die Gefangenen des Sinnes, die Sklaven der sterblichen Illusionen, daß es Lust in der Materie, Gutes im Bösen gäbe, sowie alle diejenigen, die sich mit den mesmerischen Annahmen von Krankheit, Mangel und Gebrechlichkeit als Wirklichkeiten des Lebens herumquälen.
Der Meister wußte, daß Sünde das Ergebnis des sterblichen Traumes ist, in dem irgendein Argument des Bösen, das Gutes verspricht, die Sterblichen in Versuchung führt und sie veranlaßt, danach zu verlangen. Er wußte, daß Strafe wohl eine Vergeltung für die Sünde, ja sogar ein Abschreckungsmittel dagegen sein kann, daß aber das, was der Sünder für seine Umwandlung wirklich braucht, nicht Verdammung ist, sondern Befreiung durch ein Erwachen aus der Sklaverei des ganzen Sinnestraumes. Die Lehren des Meisters ließen nicht die Schlußfolgerung zu, daß die bloße Verdammung eines Sünders, die Entrüstung über seine Verfehlungen oder seine Bestrafung ihn von geistiger Blindheit und der sich daraus ergebenden moralischen Schwäche heilen würde.
Christus Jesus beteiligte sich nicht an der heftigen Entrüstung über die Frau, die im Ehebruch ergriffen worden war. Er erkannte ihre wahre Identität als das reine Kind Gottes und die Unwirklichkeit des ganzen materiellen Traumes und machte so die Wirkung der erdrückenden Last ihrer eigenen Verdammung sowie der der Umstehenden zunichte. Der Meister verdammte sie nicht; auch versuchte er nicht, ihre Ankläger zu besänftigen, sondern er erinnerte diese daran, daß sie selber der Heilung bedurften, denn nach einer Überlieferung soll das, was er auf die Erde schrieb, die Sünden derjenigen gewesen sein, die in ihrer selbstgerechten Entrüstung bereit waren, der Frau das Leben zu nehmen. Auf diese Weise erweckte er in ihrem eigenen Gewissen ein Schuldgefühl, stillte ihren Zorn und milderte die Schärfe ihrer Verdammung.
Als dann der Meister mit der Frau allein gelassen war, eröffnete er ihr den Pfad zu einem sündlosen Leben mit dem christlichen Rat: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“ (Joh. 8:11). Die sanftmütige Behandlung, die er ihr zuteil werden ließ, bedeutete keinesfalls, daß er ihre Sünden, die der Vergangenheit angehörten, duldete oder entschuldigte, sondern daß er sie mit der Christus-Kraft seines göttlichen Charakters von beidem befreit hatte, von der allgemeinen Verdammung sowie von ihrem eigenen mesmerischen Traum von Gut und Böse.
Über diesen Punkt belehrt uns unsere Führerin, Mrs. Eddy: „Du magst das Böse als abstrakten Begriff verdammen, ohne irgend jemanden oder dein eigenes sittliches Empfinden zu verletzen, Personen aber verdamme selten, wenn überhaupt.“ Und sie fügt deutlich hinzu: „Ergreife jede Gelegenheit, die Sünde durch deine eigene Vollkommenheit zu berichtigen“ (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 249). Ist nicht dies die Lehre, die Christus Jesus den Anklägern der Frau gab? Selbstgerechtigkeit, die blind ist für die eigenen Fehler, ist es, die verdammt; wahre Gerechtigkeit ist die unpersönliche Liebe zum Guten, und dies ist die Liebe, die befreit und heilt.
Nur die geistige Erleuchtung, die durch solch ein christliches Vorgehen hervorgebracht wird, kann den sogenannten Sünder wieder in den bewußten Besitz seiner geistigen Sinne bringen, bis er imstande ist, die gemütlose, trügerische Natur des Adam-Traumes zu erkennen und sich von ganzem Herzen dem Guten zuzuwenden.
Ein solches Vorgehen, das nicht durch Zorn oder Verdammung belastet oder verwirrt ist, bedeutet in keiner Weise, den Sünder zu verweichlichen oder die Sünde zu entschuldigen. Mrs. Eddy versichert uns (Botschaft für 1901, S. 14): „Der Übeltäter empfängt keine Ermutigung aus meiner Erklärung, daß das Böse unwirklich ist, wenn ich erkläre, daß er aus seinem Glauben an diese schreckliche Unwirklichkeit erwachen muß, daß er sie bereuen und aufgeben muß, um ihre Unwirklichkeit zu verstehen und zu demonstrieren. Irrtum, der nicht verdammt wird, ist nicht vernichtet. Wir müssen den Anspruch des Irrtums in jeder Phase verdammen, um ihn als falsch, das heißt, als unwirklich zu beweisen.“
Geistige Befreiung wird stets folgen, wenn wir durch das Verständnis der Christlichen Wissenschaft und durch die geistige Zucht, die sie den menschlichen Gefühlsregungen bringt, geistig imstande sind, den vollkommenen Menschen, Gottes reinen Ausdruck, gerade da zu sehen, wo ein sterblicher Sünder dem menschlichen Sinn wirklich erscheint. Aber dieser wahre Begriff vom Menschen wird nicht in Erscheinung treten, solange Verdammung das menschliche Bewußtsein beherrscht; er ist allein die Wirkung und der Lohn der christlichen Liebe.
Wenn wir so fähig sind, den sündlosen Menschen der Gottesschöpfung zu sehen, tragen wir dazu bei, auch uns selbst zu befreien. Wenn wir umgekehrt dem sterblichen Impuls der Entrüstung nachgeben und einen anderen verdammen, verdammen wir uns selbst, denn unser Begriff vom Menschen, wie immer er sein mag, schließt uns selbst mit ein. Wenn wir versuchen, einen anderen zu kreuzigen, entwürdigen wir uns selbst.
Es ist keine Hilfe, sich selbst zu verdammen, weil man nicht fähig war, eine Demonstration in bezug auf einen körperlichen Anspruch zu vollbringen; dies stärkt nur die falsche Auffassung, daß man dem sterblichen Gemüt unterworfen sei, es sei denn, die Verzögerung beim Heilen bringt einen tatsächlich dazu, sein Denken zu erforschen und den Grund für jenen Mangel an Klarheit, der die Befreiung vom Irrtum verhindert, in der Vergegenwärtigung der Wahrheit zu finden.
Ebenso ist es mehr als nutzlos, einen anderen wegen seiner Krankheit zu verdammen und weiter nichts zu tun, als auf einige moralische Schwächen hinzuweisen, die unserer Meinung nach das Problem verursacht haben könnten. Der andere mag bereits über seine Fehler mehr wissen als wir und verdammt sich selbst deswegen. Dies ist ja gerade der niedergedrückte Sinn, den wir versuchen müssen, für ihn wieder aufzurichten, wenn wir wahre Christliche Wissenschafter sein wollen.
Ein moralischer Missetäter mag sich vor der persönlichen Gegenwart seiner Ankläger verbergen; aber er kann seinem eigenen Schuldgefühl nicht entfliehen, denn er kann sich von seinen Gedanken nicht verstecken. Selbstverdammung hingegen ist nicht genug, mag sie auch ein Anzeichen für das Erwachen aus dem Irrtum sein. Nur durch den zielbewußten, entschlossenen Prozeß der Vergeistigung werden sündige, mit Krankheit beladene und sterbliche Elemente aus dem menschlichen Bewußtsein verschwinden, und wir gelangen zur vollen Vergegenwärtigung von des Menschen wahrer Selbstheit, unserer eigenen wie auch der anderer, als das reine Gleichnis des göttlichen Gemüts. Dies allein bringt volle Befreiung vom Irrtum und von der Verdammung, die mit ihm verbunden ist.
Sollten wir die Schwere des sterblichen Lebensbegriffes und tiefes Bedauern über unsere Fehler und Schwächen fühlen, so laßt uns Trost und Mut gewinnen aus der liebevollen, wohldurchdachten Ermahnung unserer großen Führerin (Rückblick und Einblick, S. 21): „Dem himmlischen Plan gemäß dienen die Erdenschatten dazu, die Neigungen zu läutern und das menschliche Denken zurechtzuweisen, auf daß es sich freudig von einem materiellen, falschen Begriff von Leben und Glück abwende, hin zu geistiger Freude und zu der wahren Wertschätzung des Seins.“
