Am Mittag scheint die Sonne die größte Wärme und den höchsten Glanz auszustrahlen. Die Schatten werden kürzer oder verschwinden gänzlich. Aber alsbald geht die Sonne am Himmel unter. Ihre Wärme und Leuchtkraft nehmen ab, die Schatten kehren wieder, und während die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, rückt die Nacht heran. In Wirklichkeit jedoch hat die Sonne immer ihren mittäglichen Glanz und ihre mittägliche Wärme; sie bewegt oder ändert sich nicht, sie geht nicht auf und auch nicht unter, sondern sie bleibt unveränderlich.
Wie symbolisch ist doch die Sonne für das herrliche, unwandelbare Wesen Gottes! Jakobus weist in seinem Brief auf Gott als den „Vater des Lichts“ hin, „bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis“ (1:17), und Johannes erklärt, daß „Got Licht ist und in ihm ist keine Finsternis“ (1. Joh. 1:5).
Wenn Gott in Seiner Allheit immerstrahlendes Licht ist, die Quelle des unveränderlichen, immergegenwärtigen Guten, dann ergibt sich daraus logischerweise nach der Christlichen Wissenschaft, daß der Mensch, Sein Bild und Gleichnis, in der unveränderlichen, nie endenden Güte, die Gott ist, weilen und auch dessen vollkommener Ausdruck sein muß. Der Apostel Paulus identifiziert den Menschen ausdrücklich folgendermaßen (1. Thess. 5:5): „Ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.“ Hier sind die ewigen Tatsachen des Lebens und all die glorreichen Möglichkeiten des Menschen offenbart — seine Alters-, Tod- und Zeitlosigkeit.
Aber wie ist es mit den trostlosen Begrenzungen, grausamen Enttäuschungen und schockierenden Unwiderruflichkeiten, die so unausweichlich einen Teil unseres unsicheren sterblichen Daseins auszumachen scheinen? Müssen wir nicht zu dem positiven und wissenschaftlichen Schluß kommen, daß sie die Schatten einer unwirklichen Welt und eines unwirklichen Menschen sind — falsche Auffassungen vom Leben, Unwissenheit über Gott und den Menschen als Seiner Widerspiegelung?
„Die strahlende Sonne der Tugend und der Wahrheit besteht zugleich mit dem Sein. Ihr ewiger Mittag, der von keiner sinkenden Sonne verdunkelt wird, ist das Menschentum.“ So schreibt Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 246). Einer der tiefsteingewurzelten Irrtümer hinsichtlich des Lebens des Menschen ist der, daß es einen Anfang und ein Ende hat und daß es zwischen dem scheinbaren Anfangsstadium und dem Ableben eine Zeit gibt, die zur Reife führt, und eine Zeit, die das Ende herbeibringt. Aber das Menschentum ist der ewige Mittag des Seins: das ist der Mittag der Erfüllung, der Mittag der Reife, der Mittag der Vollkommenheit, „von keiner sinkenden Sonne verdunkelt.“
Da Gott niemals die absolute Vollkommenheit Seines eigenen Seins ändert, so kann auch der Mensch, Sein Bild und Gleichnis, dies nicht tun. Gott wächst niemals heran oder wird alt. Ebenso nicht der Mensch. Für ihn gibt es keine aufsteigenden oder absteigenden Jahre. Gott kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft — nur das ewige Jetzt. Die einzige Zeit, die es für den Menschen gibt, ist das Jetzt der Gegenwart Gottes. Die Vergangenheit voller Schatten und die Zukunft voller Illusionen sind unwirkliche Gebiete in der Tätigkeit eines auf Mutmaßungen beruhenden Bewußtseins; sie bestehen in Wirklichkeit nicht. Warum klammern wir uns dann noch weiter an das eine oder bedauern es und verlangen nach dem anderen oder fürchten es?
Es ist wichtig für uns zu wissen, daß wir nicht alt werden, aber es ist ebenso notwendig für uns zu wissen, daß wir nicht jung bleiben. Die Tatsache ist die: „In der Wissenschaft ist der Mensch weder jung noch alt. Für ihn gibt es weder Geburt noch Tod“ (ebd., S. 244).
Das Jungsein, das wir beibehalten wollen, ist nicht ein Zustand der Materie, sondern des Gemüts. Es ist eine Spontaneität des Denkens, wie Kinder sie haben, ein wohltuender Überschwang, eine innere Freude, eine geistige Wendigkeit, ein Erwarten des Guten und ein Vertrauen auf das Gute. Solch eine Einstellung, an der wir beständig festhalten und die wir uns täglich zu eigen machen, ist in der Lage, alle körperlichen Gebrechen, alle Steifheiten und Unzulänglichkeiten, die gewöhnlich den vorangeschrittenen Jahren zugeschrieben werden, zu entwurzeln und zu zerstören.
Irrige Denkweisen können manchmal so sehr zu unserer zweiten Natur werden, daß es uns nicht leicht fällt, unvollkommene Gedankenvorbilder zu entdecken, die wir gewohnheitsmäßig festhalten mögen. Unsere Unterhaltung verrät und offenbart jedoch oft unmißverständlich die Vorstellungen, die wir über das Leben haben. Ausdrücke wie: „Die erste Hälfte meines Lebens“, „die mittleren Jahre“, „der Rest meines Lebens“ oder „so ist das Leben“ zeigen, daß wir uns eindeutig als Sterbliche abgestempelt und unbewußt unser Erbteil des ewigen Lebens aufgegeben haben.
Wenn wir denken, daß das Leben für jemanden gerade erst beginnt, für einen anderen halb vorüber und für uns selbst fast beendet ist, dann bedeutet dies, daß wir der sterblichen Art und Weise widerstandslos zugestimmt haben und dadurch unter den unglückseligen Folgen leiden. Aber wenn wir wachsam genug sind, der Wahrheit des Lebens anzuhangen, werden wir uns weigern zu glauben, daß das Leben entweder beginnt oder endet, und so werden wir das Sein als altersund todlos demonstrieren können. Vom Standpunkt der Wissenschaft aus gesehen hat das Leben des Menschen weder Kindheit, Jugend, mittleres noch hohes Alter. Der Mensch hat kein Leben aus sich selbst. Er spiegelt das eine unteilbare Leben wider, das Gott ist.
Der Schatten eines Menschen ist nicht der Mensch selbst. Der Schatten hat kein Leben, keine Substanz, kein wirkliches Sein. Die Substanz des Menschen ist nicht im Schatten. Ein materieller Sterblicher, aus Materie bestehend — aus Fleisch, Blut und Knochen —, ist nur ein Schatten, der verschwindet, wenn das Licht der Wahrheit im menschlichen Bewußtsein aufdämmert. Gerade dort, wo der Schatten zu sein scheint, ist der wirkliche Mensch, die göttliche Idee Gottes, die Widerspiegelung des Geistes. Als Henoch seine wahre Identität und Substanz als geistig, nicht materiell, erkannte, wandelte er mit Gott, und es steht von ihm geschrieben: „Henoch [ward] weggenommen, daß er den Tod nicht sähe, und ward nicht mehr gefunden, darum daß ihn Gott wegnahm“ (Hebr. 11:5).
Moses lernte es, den Glauben an ein unüberwindliches Hindernis, eine hoffnungslose Lage oder ein nicht weichenwollendes Böses zurückzuweisen. Wenn er Gottes Führung vertraute, konnte keine dieser Illusionen ihn täuschen. Er liebte nur einen Gott und gehorchte nur einem Gott, dem „Vater des Lichts“. Er sprach oft mit Gott. Auf der Bergeshöhe gewahrte er die wahre Natur Gottes so klar und wurde sich seiner eigenen wahren Selbstheit so deutlich bewußt, daß sein Angesicht leuchtete, als er vom Berge herabkam, denn er hatte mit Gott von Angesicht zu Angesicht gesprochen und sich selbst als Gottes eigenes Ebenbild, als ein Kind des Lichts gesehen.
Die Verklärung Jesu war ein wunderbares Vorspiel für die Dinge, die da kommen sollten — seine Auferstehung, sein Sieg über den Tod, und seine Himmelfahrt. Als er mit seinen Jüngern auf der Bergeshöhe war, wurde er so eins mit dem „Vater des Lichts“, daß „sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider ... weiß wie das Licht“ wurden (Matth. 17:2). In diesem Augenblick verstand er die Alters- und Todlosigkeit des Menschen so klar, daß er Moses und Elias sah und mit ihnen sprach, obwohl sie angenommenermaßen schon vor Hunderten von Jahren gestorben waren. Brauchte er einen überzeugenderen Beweis von der Ewigkeit des Lebens, um der Kreuzigung mit der Zuversicht des Wissens von der Nichtsheit des Todes und der Allheit und Immergegenwart des Lebens ins Auge zu sehen?
In ihrem Buch „Die Einheit des Guten“ schreibt Mrs. Eddy folgende wunderbare Wahrheiten (S. 61):
„Kommen und Gehen gehören dem sterblichen Bewußtsein an. Gott ist, derselbe gestern und heute und auch in Ewigkeit‘.
Dem materiellen Sinn erschien Jesus zuerst als ein hilfloses menschliches Kindlein; doch für die unsterbliche und geistige Schau war er eins mit dem Vater, ja die ewige Idee Gottes, die weder jung noch alt, weder tot noch auferstanden war — noch ist. Die Veränderungen des sterblichen Sinnes sind der Abend und Morgen des menschlichen Denkens — Zwielicht und Dämmerung irdischer Wahrnehmung, die dem Strahlenglanz des göttlichen Lebens vorausgehen, in dem es keine Nacht gibt.“
