Das fünfte Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott gibt“ (2. Mose 20:12), wurde einem primitiven Volk gegeben, das im Begriff war, sich aus der Sklaverei zu befreien, und dessen moralisches Verantwortungsbewußtsein noch nicht entwickelt war. Doch dieses Gebot hat seine Gültigkeit niemals verloren. Die Liebe, die das Gebot erfüllt, ist heute ebenso nötig wie vor vielen Jahrhunderten, als Moses es von Gott empfing. Es weist auf die menschliche Verpflichtung hin, die Kinder ihren Eltern gegenüber zu erfüllen haben.
Jede menschliche Gesellschaft muß sich schon um ihres eigenen Wohlergehens willen auf bestimmte sittliche Maßnahmen einigen. Die menschliche Fürsorge für alle, die vorgeschrittenen Alters sind, muß auch weiterhin geübt und verbessert werden, bis die Zeit gekommen ist, da jeder einzelne so völlig beweisen wird, daß der Mensch einzig und allein von Gott abhängig ist, daß es keinen Zeitabschnitt schwindender Kräfte in der menschlichen Erfahrung mehr geben wird. Durch die Christliche WissenschaftChristian Science; sprich: kr'istjən s'aiəns. lernen wir diese Möglichkeit verstehen, denn diese Wissenschaft enthüllt den Menschen als das Bild und Gleichnis Gottes, und sie bringt diese Wahrheit auf praktische Weise ans Licht, indem sie Verfallserscheinungen und Altersschwäche heilt.
Der Mensch als Gottes Gleichnis ist nicht nur sündlos, sondern auch ohne Alter. Gott ist sein Vater und seine Mutter, und er braucht keine menschliche Elternschaft. Er besteht zugleich mit seinem himmlischen Vater und wird ewiglich von der göttlichen Liebe erhalten. Diese geistigen Tatsachen jedoch heben nicht etwa die sittliche und menschliche Verpflichtung der Kinder den Eltern gegenüber auf, sondern sie erhöhen diese Verpflichtung. Als Christus Jesus mit einer absoluteren Auffassung vom Gesetz kam, einer Auffassung, die über das sittliche Gesetz hinausging, sagte er (Matth. 5:17): „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Das wissenschaftliche Verständnis von Gott als dem Elterngemüt des Menschen findet seine Erfüllung in der zärtlichen Fürsorge, die die Menschen ihren betagten Eltern angedeihen lassen.
Maßnahmen der Sozialversicherung, die heutzutage in der Welt weitverbreitet sind, entbinden die jüngere Generation nicht von der Verpflichtung, darauf zu achten, daß ihre Eltern in der richtigen Weise versorgt sind. Oftmals reichen solche Maßnahmen nicht aus und erlauben nur einen sehr niedrigen Lebensstandard; ihr Lebensunterhalt muß ergänzt werden.
Die Tatsache, daß sich moderne Staatsregierungen um die Bedürfnisse der sogenannten alten Menschen kümmern, weist darauf hin, daß die Gesellschaft mehr Menschlichkeit bekundet, und dafür können wir dankbar sein. Diese Fürsorge bringt die wissenschaftliche Tatsache zum Ausdruck, die dem fünften Gebot zugrunde liegt, nämlich daß es ein Gesetz der Liebe gibt, das den Menschen regiert — das Gesetz, daß der Mensch den Menschen ebenso liebt, wie er seinen Schöpfer liebt. Dieses Gesetz kann nicht übertreten werden, und diejenigen, die es demonstrieren, indem sie einer moralischen Verpflichtung nachkommen, werden von Gott gesegnet; sie tun einen Schritt vorwärts in der Demonstration des ewigen Lebens.
Paulus legte besonderen Nachdruck auf diesen Segen, als er an die Epheser schrieb (6:1–3): „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist recht., Ehre Vater und Mutter,‘ das ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat:, auf daß dir's wohl gehe und du lange lebest auf Erden‘.“
Doch Paulus zeigte in aller Offenheit, daß in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern die Verpflichtung nicht allein den Kindern obliegt, denn er fährt fort: „Und ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern ziehet sie auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.“ Wenn Kinder ohne genügende elterliche Anleitung aufwachsen, so ist das zuweilen die Ursache dafür, daß sie es ihren Eltern in späteren Jahren an Liebe mangeln lassen.
Mary Baker Eddy sagt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 62): „Die ganze Erziehung der Kinder sollte derart sein, daß sie den Gehorsam gegen das moralische und geistige Gesetz zur Gewohnheit macht, wodurch das Kind der Annahme von sogenannten physischen Gesetzen, einer Annahme, die Krankheit großzieht, entgegentreten und sie meistern kann.“
Was auch immer der Grund für die Gleichgültigkeit gegenüber den Bedürfnissen der Eltern sein mag, die Verpflichtung, darauf zu sehen, daß sie gut versorgt sind, bleibt bestehen. Der verheißene Segen für den Gehorsam gegen das Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“, sollte nicht übersehen werden. Niemand kann leiden, wenn er das Gesetz der Liebe befolgt. Niemand kann, wenn er freundliche Rücksichtnahme ausdrückt, des Guten beraubt werden. Im Gegenteil, es wird ihm gut gehen. Er wird den Lohn ernten, den Gott verheißen hat.
Keine Verdrehung der Worte des fünften Gebotes — daß, da Gott unser wirklicher Vater und unsere wirkliche Mutter ist, die geforderte Achtung nur unsere Beziehung zu Ihm betreffe — kann die ursprüngliche Bedeutung des moralischen Gesetzes aufheben. Das 15. Kapitel des Matthäusevangeliums berichtet, daß Jesus selbst die Schriftgelehrten und Pharisäer zurechtwies, die zuweilen die rabbinischen Satzungen für wichtiger hielten als das Gesetz Gottes, wie es Moses offenbart worden war. Anstatt sich um die Bedürfnisse der Eltern zu kümmern und so Vater und Mutter zu ehren, konnte zum Beispiel jemand zu seinen Eltern sagen: „Es ist ein Geschenk“ (n. der engl. Bibel), und dies bedeutete nach einem Bibelkommentar, daß er Gott ein Geschenk machte, und nicht seinen Eltern. Tatsächlich gelobte er so, seinen Vater oder seine Mutter nicht zu unterstützen, wie sehr sie auch seiner Hilfe bedurften.
Der Meister legte das fünfte Gebot nicht in einer hypermetaphysischen Weise aus. Seiner Auslegung nach besagt es, daß Kinder ihren menschlichen Eltern Achtung zollen und sich um sie kümmern sollen. Er sagte zu seinen Gegnern (Matth. 15:6): „So habt ihr Gottes Gebot aufgehoben um eurer Satzungen willen.“ Das fünfte Gebot erfordert gegenseitige Achtung, die aller moralischen Verpflichtung zugrunde liegt, sowie auch den Geist der Wahrheit, der die Wissenschaft des Seins demonstriert.
Das „Gebot, das eine Verheißung hat,“ enthält für alle einen sicheren Lohn. Wie Mrs. Eddy in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901 sagt (S. 29): „Alle Ehre und aller Erfolg gebührt denjenigen, die ihren Vater und ihre Mutter ehren.“
 
    
