Bei einer Abendgesellschaft wurde einem Gast der Platz gegenüber einem Spiegel angewiesen. Die Dame erklärte scherzend, sie sei froh, ihre Gastgeberin zwischen sich und dem Spiegel zu haben und daher nicht sich selbst sehen zu müssen. Was eigentlich Selbsterniedrigung war, erschien ihr später einer näheren Betrachtung im Licht der Christlichen Wissenschaft wert, denn sie fühlte, daß hinter einer solchen Bemerkung Unsicherheit oder eine falsche Auffassung vom eigenen Ich steht, die aufgedeckt und berichtigt werden sollte.
In der Bibel lesen wir (1. Kor. 13:12): „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ In den letzten Worten liegt unverkennbar die frohe Botschaft, daß Gott nur Vollkommenheit wahrnimmt, denn wir haben auch im Schöpfungsbericht die Zusicherung (1. Mose 1:31): „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.“ Damit wir uns der Schöpfung Gottes in ihrer Vollkommenheit bewußt werden und diese Vollkommenheit erleben können, ist uns die Christliche Wissenschaft gegeben worden.
Mrs. Eddy hat die Bibel hingebungsvoll studiert. Die ihr dabei zuteil gewordene Erkenntnis des Wesens Gottes und des Menschen führte sie zu folgender unschätzbaren Erklärung über den wahren, geistigen Menschen (Wissenschaft und Gesundheit, S. 475): „Der Mensch ist Idee, das Bild der Liebe; er ist kein körperlicher Organismus. Er ist die zusammengesetzte Idee Gottes und schließt alle richtigen Ideen in sich; der Gattungsname für alles, was Gottes Bild und Gleichnis widerspiegelt.“
Diese Erklärung ermöglicht es uns, unseren Nächsten liebevoll zu betrachten und uns zu weigern, ihn mit der Suggestion von einem unvollkommenen Sterblichen in Verbindung zu bringen. Christus Jesus gebot uns, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst. Wir können also unsere Pflicht gegenüber unserem Nächsten nicht erfüllen, solange wir nicht auch uns selbst lieben und uns im rechten Licht betrachten. Wir müssen uns selbst bei der Hand nehmen, die Eitelkeit des materiellen Sinnes als unwürdig und unwirklich zurückweisen und uns geduldig und beharrlich unsere geistige Identität vor Augen führen, die die Widerspiegelung Gottes ist.
Wir können die Frage: „Was bin ich?“ nicht umgehen. Unwissenheit über das eigene Ich muß überwunden werden, denn diese Unwissenheit hindert unseren Fortschritt, und wir mögen äußere Umstände oder andere Menschen für unsere Mißerfolge verantwortlich machen.
In ihrem Buch „Rückblick und Einblick“ schreibt Mrs. Eddy (S. 86): „Kennst du dich selbst noch nicht? Dann lerne dieses Selbst kennen.“ Sie fährt fort: „Entferne jeden Flecken aus dem beschmutzten Gewande dieses Wanderers, wische ihm den Staub von den Füßen und die Tränen aus den Augen, auf daß du den wirklichen Menschen schauen mögest, den heiligen Mitbewohner einer heiligen Wohnstatt.“
Es ist nicht die Rede davon, vor unseren Unzulänglichkeiten die Augen zu verschließen oder zu versuchen, Unvollkommenheit in Vollkommenheit zu verwandeln. Es gilt die ewige Unversehrtheit des Menschen aufzudecken, denn er war stets die Schöpfung Gottes. Das Ergebnis ist für die menschliche Erfahrung Heilung — Heilung von Charakterfehlern, von schwierigen Situationen, von Krankheit. „Das Zugeständnis des Menschen an das eigene Ich, daß der Mensch Gottes eigenes Gleichnis ist, verleiht dem Menschen die Freiheit, Herr über die unendliche Idee zu werden“, sagt Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 90).
Wir müssen uns von der Last der Annahme freimachen, daß wir mit einer materiellen Persönlichkeit identisch seien. Dies wurde der Verfasserin in der Erinnerung an einen Vorwurf klarer, der einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte. Ihr wurde in einer Gesellschaft etwas Schmeichelhaftes gesagt, und sie gab darauf eine gleichgültige, ziemlich unfreundliche Antwort, weil ihr der persönliche Sinn sagte, sie dürfe das Lob nicht annehmen. Eine erfahrene Christliche Wissenschafterin wies sie daraufhin freundlich lächelnd zurecht. Die Verfasserin hat daraus gelernt, ein ehrliches Lob niemals auf eine materielle Persönlichkeit zu beziehen, sondern es zur Ehre Gottes gelten zu lassen.
Wenn uns klar ist, daß der Mensch „die zusammengesetzte Idee Gottes“ ist und „alle richtigen Ideen“ in sich schließt, werden wir uns über das Sichtbarwerden der richtigen Idee freuen, wo immer sie zutage tritt, wie auch darüber, daß sie erkannt und anerkannt wird, Selbstverleugnung, zu der die Christenheit zu Recht immer wieder ermahnt wird, besteht in Wirklichkeit darin, daß wir die sogenannte materielle Selbstheit leugnen; es bedeutet nicht, das wahre Selbst, den geistigen Stand des Menschen als die Widerspiegelung Gottes aus den Augen zu verlieren.
Berauben wir uns nicht der Freude der bewußten Gotteskindschaft! Diese Freude wird erhöht durch die Erkenntnis, daß wir unsere Gotteskindschaft mit all den Seinen teilen. Dann wird es uns nicht mehr irritieren, wenn wir unvermutet unserem Spiegelbild gegenüberstehen, ebensowenig wie uns das plötzliche Auftauchen eines anderen — sogar eines sogenannten Feindes — irritieren sollte.
Unser Spiegelbild wird uns dann weder über Gebühr anziehen noch Verlegenheit verursachen. Es wird seine Bedeutung verlieren, weil unser Blick auf einer höheren Ebene ruht. Wir wissen, was wir wirklich sind: nicht der anziehende oder abstoßende Sterbliche, den wir zu sehen scheinen, sondern die individuelle Offenbarwerdung der göttlichen Intelligenz, Weisheit, Güte, Schönheit, Rechtschaffenheit — nicht im Fleisch oder als persönliche Errungenschaft, sondern als Ausdruck der göttlichen Eigenschaften, die so allgegenwärtig sind wie Gott.
Wenn wir zur Erkenntnis dieser Tatsache durchgedrungen sind, werden wir sie in unserer eigenen Erfahrung erleben, und das „dann“ in der eingangs erwähnten Bibelstelle wird zu dem „nun“ in der Erklärung des Paulus in seinem zweiten Brief an die Korinther (3:18): „Nun aber spiegelt sich bei uns allen die Herrlichkeit des Herrn in unserm aufgedeckten Angesicht, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist.“