Ein geistiges Talent
Die Tür des neuen Lesezimmers der Christlichen Wissenschaft in der MacDougal Street im New Yorker Stadtteil Greenwich Village öffnete sich, und ein Mann steckte seinen Kopf herein und sah sich um.
„Was ist denn das hier für ein Laden?“ fragte er mit unschuldsvoller Respektlosigkeit.
Die Lesezimmerbeamtin, die es versteht, Fremde willkommen zu heißen, die oft mit den ungewöhnlichsten Bemerkungen aufwarten, fühlte sich nicht gekränkt. „Dieser, Laden‘ “, erwiderte sie liebenswürdig, „ist ein Lesezimmer der Christlichen Wissenschaft.“
„Oh“, sagte der Mann und verlor etwas von seiner Respektlosigkeit. „Ich dachte, es wäre vielleicht eine Kunsthandlung.“
„Auf eine Art ist es das auch“, parierte die Beamtin. „Wir studieren hier die Lebenskunst.“
Dieses Lesezimmer wird von den Mitgliedern Zehnter Kirche Christi, Wissenschafter, New York unterhalten. Die Bibliothekarin zählte einmal die Fußgänger, die innerhalb von fünf Minuten an einem gewöhnlichen Winternachmittag vorbeigingen. Sie kam auf 79. Die Lesezimmerbeamten sind geistig darauf vorbereitet, Fremde zu begrüßen, und sie kennen und lieben ihren Stadtteil. Sie erwarten, daß Nicht-Wissenschafter hereinkommen, und werden selten enttäuscht.
Im vorletzten Winter kam ein Lastwagenfahrer herein, der sich wegen seiner Kinder Sorgen machte, und fragte: „Worin unterscheidet sich die Christliche Wissenschaft von anderen Religionen?“ Die Bibliothekarin fühlte sich veranlaßt, ihm statt dessen zu erzählen, worin die Christliche Wissenschaft mit anderen christlichen Religionen übereinstimmt. Der Mann war weniger wegen der Veränderungen in seiner eigenen Religion besorgt als darüber, daß sie sich nicht schnell genug vollzogen, um ihm bei seinen dringendsten Sorgen zu helfen. Er hörte sich an, was ihm die Bibliothekarin darüber erzählte, was in der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft gelehrt wird, und sagte dann: „Ich kann Ihnen sagen, worin sich Ihre Religion unterscheidet. Sie ist praktisch anwendbar.“
Als einmal eine besorgte Mutter hereinkam, die auf der Suche nach ihrer davongelaufenen Tochter, einem Teenager, war, wies die Bibliothekarin auf einen Artikel im Christian Science Monitor hin, der von einem Lokal in der MacDougal Street handelte. Darin stand, daß jenes Lokal Jugendlichen Hilfe leistete, die im Sommer nach Greenwich Village kamen.
Ein mohammedanisches Mädchen, das über den Tod ihres jungen Bruders trauerte, wollte das Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy, borgen, nachdem sie die Bibel schon zweimal ganz durchgelesen hatte. Die Bibliothekarin erinnerte sich an die Moscheen, die sie auf ihren Reisen aufgesucht hatte, und versuchte ihr die Funktion des Lesezimmers auf eine Weise zu erklären, die für einen Mohammedaner verständlich ist — als eine Stätte, wo wir Ruhe, Schönheit und geistige Erfrischung inmitten der betriebsamen Stadt finden. Sie kamen überein, daß wir alle den einen Gott anbeten, auch wenn manche ihn Allah nennen. Das Mädchen kam mehrmals zurück, um sich Bücher auszuleihen.
Einer der vielen jungen Leute, die im Lesezimmer willkommen geheißen wurden, war ein schwarzer Student von der nahebei gelegenen New Yorker Universität, der sich am ersten milden Apriltag eine Bibel aus der Leihbibliothek entlieh, um sie in den Washington-Park mitzunehmen, der eine Straße weiter ist. „Das Wetter ist einfach zu schön, um zum Lesen drinnen zu bleiben", meinte er.
Eine Frau, die noch nie zuvor ein Lesezimmer besucht hatte, war ganz in das Schlußkapitel „Früchte der Christlichen Wissenschaft“ in Wissenschaft und Gesundheit vertieft. Als sie wegging, reichte sie der Bibliothekarin ihre Zigaretten zum Wegwerfen und erklärte: „Wenn die Wissenschafter all das hier können, dann kann ich auch das Rauchen aufgeben!“
Zur Fliederzeit, als ein Bücherbord gegenüber dem Eingang ganz mit Flieder geschmückt war, kam eine junge Frau, die brutal geschlagen worden war, durch die Tür gerannt und vergrub ihr wundes Gesicht in den Blüten. Dann setzte sie sich in die hinterste Ecke des Leseraums. Die Bibliothekarin brachte ihr das Liederbuch der Christlichen Wissenschaft, in dem sie Mrs. Eddys Lied „Der Mutter Abendgebet“ aufgeschlagen hatte. Der erste Vers lautet: „Kraft, Freude, Friede, holde Gegenwart.“ Lied Nr. 207. Die Frau blieb sieben Stunden, und die letzte Bibliothekarin, die sie sah, sagte, daß ihr Gesicht wieder fast normal gewesen wäre.
Diese fähigen Lesezimmerbeamten finden, daß sie für ihre Arbeit reich belohnt werden, denn all die Liebe, die sie ihrer Umgebung entgegenbringen, scheint stets zu ihnen zurückzukehren, wenn Fremde ins Lesezimmer kommen.
