Lieber —,
ich kann gut verstehen, daß Du gegen die Störung von Vorlesungen an der Universität durch studentische Aktivisten protestierst und die Übertriebenheit mancher studentischer Forderungen mißbilligst. Es erscheint wie eine Ironie, daß es gerade an der Stätte der Vernunft so viel Unvernunft gibt. Ich verstehe Deinen Standpunkt, daß die andersdenkenden Studenten nicht alle regulären Möglichkeiten für einen Protest ausgenutzt haben.
Ich möchte nun nicht, daß es so aussieht, als wollte ich die Aktionen der andersdenkenden jungen Leute romantisieren oder legalisieren, doch ich möchte zu bedenken geben, daß sich hinter dieser Unruhe vielleicht etwas verbirgt, was tiefer und wichtiger ist, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Wie oft haben wir beide darüber gesprochen, was an den Universitäten und Hochschulen geändert werden muß ! Wie Du Dich erinnern wirst, erörterten wir das letzte Mal Deine Besorgnisse darüber, daß manche Deiner Vorlesungen unzeitgemäß sind, daß einer Deiner Professoren sich mehr mit schriftstellerischen Aufgaben befaßt als mit dem Lehren, daß der Assistent in einer anderen Vorlesung weniger als sachkundig ist, daß schwarze Studenten es besonders schwer haben, auf der Universität zu bleiben, und daß Eure Verwaltung sich weigert, die Studenten anzuhören oder sie an Universitätsgremien zu beteiligen. Und es gab auch noch andere Besorgnisse.
Nun, ich glaube, daß das, was uns beiden Sorgen bereitet, den studentischen Unruhen zugrunde liegt, wenn ich auch nicht sicher bin, daß diese Besorgnisse bei allen Studenten das Motiv für ihre Erregung sind. Bestimmt sind wir beide mit den Mitteln, die sie meistens gewählt haben, nicht einverstanden, wir müssen aber zugeben, daß einige der Ergebnisse positiv sind. Universitäten und Hochschulen wandeln sich als Resultat der studentischen Gewalt. Selbst kleine Hochschulen ziehen neue Formen der studentischen Mitbestimmung in Betracht, die vor ein oder zwei Jahren undenkbar gewesen wären. Das ist keine Billigung oder Unterstützung aller oder nicht einmal der Mehrzahl der Aktionen der andersdenkenden Studenten, sondern das sind die Tatsachen. Aus der Erregung erwächst ein gewisser Grad des Fortschritts und notwendiger Reform.
Doch jetzt zu Deinem besonderen Anlaß für diesen Brief. Wie sollte ein Christlicher Wissenschafter all dies betrachten? Es scheint mir, daß die Antwort nicht darin besteht, sich den Andersdenkenden anzuschließen, auch wenn man vielleicht manche der Ziele billigt. Auch liegt die Antwort nicht in der Beteiligung an einer Opposition gegen die Andersdenkenden, um so gegen die Protestierenden zu protestieren. Das verschlimmert gewöhnlich nur die Lage.
Nein, in der Christlichen Wissenschaft ist Gebet die Antwort. Überrascht? Oh, ich meine nicht ein Gebet, das Gott anfleht, Gesetz und Ordnung wiederherzustellen und alles in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Ich meine ein Gebet, das davon überzeugt ist, daß Gott „zu Trümmern, zu Trümmern, zu Trümmern“ machen wird, „bis der kommt, der das Recht hat“ Hes. 21:32;. Ich meine ein Gebet, das mit der Tatsache von Gottes Allerhabenheit, von Gottes Herrschaft über alles, beginnt. Ich meine ein Gebet, das daran festhält, daß unter dem göttlichen Gesetz die Harmonie des Menschen ununterbrochen fortbestehen und daß das menschliche Gesetz sich dem göttlichen angleichen muß — ein Gebet, das daran festhält, daß die Ordnung oder das Gesetz der göttlichen Schöpfung Gerechtigkeit, Liebe, Rechtschaffenheit und Wahrheit einschließt und daß diese göttliche Ordnung in den menschlichen Angelegenheiten sichtbar sein muß.
Mit den Worten Mrs. Eddys: „Eine verfassungswidrige und in ungerechter Weise einschränkende Gesetzgebung und Gesetze, die in die persönlichen Rechte eingreifen, müssen von, kurzer Zeit und voll Unruhe‘ sein. Unter der Vorsehung Gottes fördert und erzwingt die Stimme des Volkes jede echte Reform, und zu gegebener Zeit wird sie Unbill wiedergutmachen und Ungerechtigkeit berichtigen.“ Vermischte Schriften, S. 80;
Das, was der Änderung bedarf, als unvermeidlich oder unveränderlich hinzunehmen heißt den menschlichen Fortschritt lähmen. Christus Jesus war kaum ein Verfechter des status quo. Wenn wir beide auch gute Gründe haben mögen, uns den Elementen nicht anzuschließen, die aus unterschiedlichem Anlaß bestimmte Tätigkeiten an Deiner Universität ändern oder eingestellt sehen möchten, treten wir doch für notwendige Reformen ein. Wir erkennen auch, daß die Andersdenkenden in gewissen Fragen ganz und gar im Unrecht sein mögen und daß die Erfüllung ihrer Wünsche eher Rückschritt als Fortschritt bedeuten würde. Wir schätzen sowohl die Rolle desjenigen, der für die Beibehaltung des gegenwärtigen Guten eintritt, wie auch die des Neuerers, der zu notwendigen Reformen drängt.
Weisheit ist erforderlich, um unterscheiden zu können, was wirklich eine Reform und was Rückschritt ist. Wie erkennt man das? Wie der ist Gebet die Antwort. Menschliche Weisheit allein, wenn sie sich nicht auf die göttliche gründet, kann irreführen, verwirren und wirkliche Reform vereiteln. Mrs. Eddy schreibt: „Das bedeutsame Grundelement der Reform wird nicht aus menschlicher Weisheit geboren; es leitet sein Leben nicht von menschlichen Organisationen ab; vielmehr zeigt es sich darin, daß die materiellen Elemente von der Vernunft abbröckeln, daß das Gesetz in seine ursprüngliche Sprache — ins Gemüt — zurückübertragen wird, sowie in der endgültigen Einheit des Menschen mit Gott.“ Die allgemeine Anschauung der Menschen von Gott, S. 1;
Wir wollen uns deshalb der göttlichen Weisheit zuwenden. Wir wollen unser Denken mit dem göttlichen Gemüt in Übereinstimmung bringen und unser Empfinden und Tun von ihm beherrschen lassen. Wir wollen klarer erkennen, daß das göttliche Gemüt alles regiert, was mit Deiner Universität zusammenhängt — die Verwaltung, den Lehrkörper, die Studenten, das Kuratorium und die Öffentlichkeit. Durch ein solches Folgern, das auf der Tatsache der Einheit des geistigen Menschen mit Gott basiert, werden sich jetzt Deine menschliche Institution und ebenso deren Methoden und Verfahren zu ändern und umzugestalten beginnen.
Das bedeutet, auf seiten Gottes zu protestieren. Das bedeutet, den materiellen Annahmen von Untätigkeit, Gleichgültigkeit und organisatorischem Stillstand nicht zuzustimmen. Und das ist die erste Voraussetzung für wirkliche Reform.
Solch gebeterfülltes Denken macht unser Herz und Gemüt — und das der anderen ebenso — für die menschlichen Schritte aufgeschlossen, die Fortschritt und rechte Tätigkeit sicherstellen. Weniger zu tun, als einen Beitrag in der uns bekannten wissenschaftlichen Weise zu leisten, und sich lediglich entweder der störenden Minderheit oder der abfällig urteilenden Mehrheit anzuschließen heißt nicht heilen, sondern das Problem verschärfen. Wir können jedoch sicher sein, daß uns als Folge unseres konsequenten und beharrlichen Gebets der Weg zu einer geeigneten Reform aufgezeigt wird und daß auch andere ihn sehen werden.
Mrs. Eddys Worte, die vor Jahrzehnten niedergeschrieben wurden, geben uns in diesem gegenwärtigen Zeitabschnitt Sicherheit: „Die heutige Zeit ist eine Zeit des Zweifelns, des Forschens, der Spekulation und der Selbstsucht, eine Zeit geteilter Interessen, erstaunlicher Güte und rätselhafter Bosheit. Aber die Sünde kann sich nur selbst zerstören; und Erneuerung wird und muß das Wachstum der Menschheit beschleunigen.“ Vermischte Schriften, S. 237.
Wir können dankbar sein, daß Erneuerung oder Reform den Fortschritt der Menschheit beschleunigt. Noch wichtiger jedoch ist, daß wir durch unser gebeterfülltes Denken, durch unseren geistigen Protest und unser weises Handeln eine positive Rolle bei dieser Reform spielen können. Du kannst Dich darauf verlassen, daß ich mich Dir in dieser wichtigen Arbeit anschließe.
Mit herzlichen Grüßen