Nach menschlicher Ansicht besteht Gehorsam streng genommen darin, einer Forderung zu entsprechen, und in diesem Zusammenhang bedeutet er Unterwerfung unter den Willen eines anderen. Dies schließt die freie Betätigung der Initiative des einzelnen aus, und er kann seinen persönlichen Neigungen nicht nachgehen, die durch seinen eigenen Geschmack, sein eigenes Urteil und durch seine besondere Vorliebe bestimmt werden. Dieser Gehorsam hat daher wenig mit der Betätigung der Intelligenz gemein, die normalerweise die Entscheidungen und Handlungen des einzelnen regieren sollte.
Von klein auf wird ein Kind gelehrt zu gehorchen; es wird ihm gesagt, daß Gehorsam eine Tugend sei. Aber diese Unterweisung ist nicht oft genug mit dem verständnisvollen Bemühen verbunden, dem Kind den Gedanken einzuschärfen, daß es lernen muß, so schnell wie möglich festzustellen, welcher Art das ist, was seinen Gehorsam fordert, daß es lernen muß, zwischen den unendlich gütigen Gesetzen Gottes und den tyrannischen Einflüsterungen und dem knechtenden Zwang der Materie oder des fleischlichen Gemüts zu unterscheiden. Nicht blinder Gehorsam gegen eine Anordung, sondern das wissenschaftliche Vertrauen auf deren wohlwollende Ursache macht den Gehorsam des Kindes zu einem Akt der Intelligenz, zu einer Tugend, die es segnen wird.
Die Fähigkeit, zwischen der Stimme des göttlichen Gemüts und dem Drängen des persönlichen Sinnes zu unterscheiden, erlangen wir durch das geistige Verständnis von der göttlichen Liebe und von uns selbst als dem Ausdruck von Gottes schöpferischer, erhaltender Intelligenz. Ohne dieses Verständnis kann Gehorsam leicht zu einer bloßen Unterwerfung unter die Forderungen des sterblichen Gemüts werden.
Wahrer Gehorsam und geistige Intelligenz sind daher nicht zu trennen. Ein blindes Nachgeben gegenüber den Versuchungen des materiellen Sinnes, die sich an die Begierde, an die Furcht vor der Materie, an ererbte Charaktereigenschaften und persönliches Widerstreben wenden, führen zu Mißerfolg und Enttäuschung. Andererseits ist Gehorsam gegenüber den Forderungen der Wahrheit Gehorsam gegen das Gesetz des Lebens selbst. Er ist daher keine Unterwerfung, sondern Freiheit unter dem Schutz und der immerwährenden Führung Gottes, des göttlichen Gemüts.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß dieser geistig erleuchtete Gehorsam ein völliger Gehorsam sein muß, um wirksam zu sein, und nicht ein furchtsamer Kompromiß mit den Forderungen und den Einschüchterungsversuchen des materiellen Sinnes sein darf. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit: „Das göttliche Gemüt verlangt mit Recht des Menschen ganzen Gehorsam, seine ganze Neigung und Stärke. Kein Vorbehalt wird für irgendeine geringere Pflichttreue gemacht. Gehorsam gegen Wahrheit verleiht dem Menschen Macht und Stärke. Unterwerfung unter den Irrtum führt Verlust an Macht herbei.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 183; Und auf der vorhergehenden Seite weist sie darauf hin, daß „Gehorsam gegen das materielle Gesetz ... den vollen Gehorsam gegen das geistige Gesetz [verhindert] — gegen das Gesetz, das die materiellen Zustände überwindet und die Materie dem Gemüt untertan macht“ S. 182;
Christus Jesus veranschaulichte und lehrte diesen vollen, intelligenten Gehorsam gegen Gott, Geist. Niemals zögerte er, niemals zeigte er die geringste Unsicherheit, wenn er die Forderungen, Versuchungen und Einschüchterungsversuche des fleischlichen Gemüts zurückwies, die den Anspruch erheben, das Wohlbefinden und richtige Funktionieren des sterblichen Körpers, ja jeder Phase des menschlichen Lebens zu beherrschen. Wie prägnant erklärte doch der Apostel Paulus den Christen in Rom, von welcher Bedeutung es ist, in geistig intelligenter Weise den richtigen Herrn zu erwählen, als er sagte: „Wisset ihr nicht: welchem ihr euch als Knechte ergebet zum Gehorsam, dessen Knechte seid ihr und müsset ihm gehorsam sein, es sei der Sünde zum Tode oder dem Gehorsam zur Gerechtigkeit? Gott sei aber gedankt, daß ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun gehorsam geworden von Herzen dem Bild der Lehre, welchem ihr ergeben seid. Denn nun ihr frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit.“ Röm. 6:16–18;
Es wird heute von immer größerer Bedeutung, den drängenden Forderungen der Physiologie und Biochemie gegenüber wachsam zu sein, die verlangen, daß die Menschheit ihre Theorien über Substanz, Ursächlichkeit und die Natur des Lebens selbst akzeptiere und sich ihnen unterwerfe. Diese Formen der menschlichen Annahme sind Ecksteine der medizinischen Theorien, die den Menschen als lebendige Materie ansehen, in einen materiellen Körper eingeschlossen, das heißt also als ein sterbliches Wesen, dessen Leben, Gesundheit, Gemüt und Charakter weitgehend durch die chemischen Vorgänge in seinem Körper, durch seine Erbanlagen und durch das bestimmt werden, was diese Theorien als die Gesetze einer selbsttätigen Kraft des physikalischen Systems festlegen und uns anhängen. Die Forderung, die das sterbliche Gemüt an uns stellt, besteht alles in allem darin, diese völlig falsche Vorstellung von uns zu akzeptieren, seinem Diktat zu gehorchen, seine Gesetze anzuerkennen und die von ihm vorgeschlagenen Heilmittel anzuwenden, um unsere physische Gesundheit, unsere mentalen Fähigkeiten und unser allgemeines Wohlergehen zu erhalten oder wiederherzustellen.
Haben wir uns diesen flüchtigen, materiellen Theorien zu beugen, die in der Maske der Wahrheit auftreten, oder sollten wir nicht vielmehr auf den stillen Ruf des Christus, der Wahrheit, die Botschaft der allwissenden göttlichen Liebe eingehen und ihr gehorchen? In Wissenschaft und Gesundheit zeigt Mrs. Eddy mit unmißverständlicher Deutlichkeit, welcher Art die Wahl ist, die wir zu treffen haben, sowie ihre Auswirkungen: „Die Forderungen Gottes wenden sich nur an die Gedanken; aber die Ansprüche der Sterblichkeit und das, was Naturgesetze genannt wird, gehören der Materie an. Was sollen wir denn als rechtmäßig annehmen und als fähig, das höchste menschliche Gute hervorzubringen? Wir können nicht beidem gehorchen, der Physiologie und dem Geist, denn das eine zerstört das andere absolut, und das eine oder das andere muß in unseren Neigungen vorherrschen. Es ist unmöglich, von zwei Standpunkten aus zu arbeiten. Wenn wir dies unternehmen, werden wir bald, dem einen anhangen und den andern verachten‘.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 182;
Die Verantwortung dafür, wem wir während unserer irdischen Erfahrung in jeder Lage folgen wollen, liegt ganz und gar bei uns. Und wir sind auch für die Folgen verantwortlich. War nicht dies die überragende Ermahnung, die Josua, in der Weisheit seiner Jahre, seinem Volk gab, das, von den Kanaanitern, den Amoritern und anderen heidnischen Stämmen umgeben, ähnlich wie wir heute, ständig von dem mesmerischen Einfluß des Götzendienstes, dem Ausdruck der unwissenden, materialistischen Auffassungen von Leben, von Gott und Seiner Macht, bedrängt wurde?
Nachdem er die Israeliten an die zahllosen Beweise von Gottes beschützender und leitender Macht erinnert hatte, die sie in ihrer langen Geschichte erlebt hatten, forderte der Prophet sie auf: „So fürchtet nun den Herrn und dient ihm treulich und rechtschaffen... Gefällt es euch aber nicht, dem Herrn zu dienen, so wählt euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter gedient haben jenseits des Stroms, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen.“ Jos. 24:14, 15.
In ähnlicher Weise müssen auch wir unsere Wahl treffen und sie dauernd vor Augen haben, denn die widerstreitenden Einflüsterungen des materiellen Sinnes, die in dem allgemeinen menschlichen Denken Wurzel gefaßt haben, bieten sich uns täglich, ja stündlich dar. Wir sind aufgefordert, ihnen ins Auge zu sehen, zu erkennen, daß wir es nur mit falschen Versprechungen und leeren Drohungen zu tun haben, und aus intelligentem, frohem Gehorsam gegen das göttliche Gemüt zu denken und zu handeln.
Wer ungehorsam ist, ist unbesonnen, undankbar und eigensinnig. Er schließt sich selbst von der Führung, dem Schutz und dem Fortschritt aus, die ein intelligenter Gehorsam gegen die stille, aber nie verstummende Stimme Gottes mit sich bringt. Menschlicher Wille ist geistige Unwissenheit. Gehorsam gegen Gott ist wahre Intelligenz.
