Das Buch des Propheten Jesaja ist von größtem Interesse und tiefster Bedeutung. Die meisten Bibelgelehrten verfechten heute die Meinung, daß es sich mit einem weiten Ausschnitt aus der Geschichte und dem geistigen Fortschritt des hebräischen Volkes befaßt, der sich über etwa drei ereignisreiche Jahrhunderte erstreckt. Aus diesem Grunde nimmt man an, daß es das Werk von mindestens drei außergewöhnlichen Verfassern darstellt.
Es besteht kaum ein Zweifel über die Identität, die Daten und die Herkunft des ursprünglichen Verfassers, dessen Name schließlich dem vollständigen Buch gegeben wurde, nämlich „Jesaja, der Sohn des Amoz“ (Jes. 1:1). Er ist im Königreich Juda geboren und aufgewachsen und übte den größeren Teil seiner literarischen und prophetischen Tätigkeit in der Nähe Jerusalems aus. Daher wird er auch als Jesaja von Jerusalem, oder der Erste Jesaja, bezeichnet, der Verfasser fast aller Kapitel von 1—39.
Jesaja, der Sohn des Amoz, war ein Zeitgenosse von Amos, Hosea und Micha. Alle vier lebten im achten Jahrhundert v. Chr. in Palästina, etwa zwei Jahrhunderte vor dem Zeitpunkt, als das jüdische Volk von Palästina nach Babylon ins Exil geschickt wurde. Dies war eine Zeit der Versuchungen und Prüfungen, die Jesaja voraussah und voraussagte, obwohl weder er noch seine Mit-Propheten sie persönlich erlebten.
Der Verfasser des zweiten Hauptteils des Buches Jesaja war ein unbekannter Schriftsteller, der nicht in Palästina lebte und schrieb, sondern in dem entfernt gelegenen Babylon, und zwar ungefähr in der Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. Um ihn von dem Ersten Jesaja zu unterscheiden, ist es üblich, von diesem tief geistigen Menschen, der die Kapitel 40—55 zu dem Buch beitrug, als von dem Jesaja des Exils oder dem Zweiten Jesaja zu sprechen.
Einem dritten Verfasser — es kann auch eine Gruppe von Verfassern sein —, der gewöhnlich der Dritte Jesaja genannt wird (Kapitel 56—66), werden die abschließenden Kapitel dieses großen Buches zugeschrieben. Sie behandeln die Probleme des Wiederaufbaus und der Erneuerung in Palästina selbst, nachdem die meisten im Exil Lebenden in ihr Heimatland zurückgekehrt waren und dieses weitgehend verwüstet vorgefunden hatten.
Wegen der unterschiedlichen Herkunft und Betrachtungsweise derjenigen, die zu diesem gemeinsamen Buch Jesajas beigetragen haben, und wegen der getrennten Zeitabschnitte ihrer Werke werden ihre Beiträge gewöhnlich als drei verschiedenartige Teile des Buches angesehen. Wir werden sie in der vorliegenden Abhandlung in chronologischer Reihenfolge betrachten.
Zu Beginn seines Berichts datiert Jesaja von Jerusalem sein Werk, indem er bemerkt, daß er während der Regierungszeit von vier aufeinanderfolgenden Königen von Juda tätig war, der Könige „Usia, Jotham, Ahas und Hiskia“ (1:1). Die Bereitwilligkeit Urias, des Hohenpriesters, für ihn als Zeuge aufzutreten (8:2), weist auf die soziale Stellung des Propheten hin.
Jesaja berichtet (6:1), daß er seine Berufung zu predigen in einer Vision erhielt, die ihm im Tempel zu Jerusalem kam, „in dem Jahr, als der König Usia starb“ (um 742 v. Chr.), womit er bestätigte, daß der Beginn seiner Laufbahn in der Mitte des achten Jahrhunderts v. Chr. lag, einer Laufbahn, die sich über etwa vierzig Jahre erstreckte.
Jesaja von Jerusalem war nicht nur ein Zeitgenosse von Amos und Hosea, sondern er teilte auch mit ihnen die Probleme, mit denen sie im nördlichen Israel selbst zu tun hatten: Materialität, Sinnlichkeit und unmäßiger Luxus. Jesaja beklagt die Tatsache, daß Jerusalem, das einst für seine Rechtsprechung und Gerechtigkeit bekannt war, jetzt wegen seines Umgangs mit Dieben und Mördern berüchtigt war (siehe 1:21—23). Er arbeitete, um solche Übel unwirksam zu machen und sie durch geistigen Fortschritt und messianische Erwartung zu ersetzen.