Ein Standpunkt bedeutet im weiteren Sinne nicht eine physische Örtlichkeit, von der aus man eine Gegend betrachtet, sondern die Geisteshaltung, mit der man die Dinge ansieht. Der Gipfel eines Berges bietet eine bessere Aussicht auf eine Landschaft als der Fuß des Berges. Wenn wir jedoch die Dinge im mentalen oder geistigen Bereich betrachten, dann hängt das, was wir sehen, verstehen und uns so zu eigen machen können, nicht von der physikalischen Höhe unseres Standpunktes ab, sondern von dem Zustand unseres Bewußtseins.
Das Ausmaß unserer mentalen und geistigen Entwicklung wie auch unsere gefühlsmäßige Veranlagung bestimmen unsere Fähigkeit, eine Erklärung oder Idee intelligent und objektiv auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit hin zu untersuchen. Wie wichtig ist es also, die geistige Haltung einzunehmen, die uns befähigt, die wahre Natur des Lebens zu verstehen und für uns selbst anzunehmen. Dadurch machen wir diese Haltung zu unserem tatsächlichen Standpunkt, der die großen Möglichkeiten einer geistig erleuchteten menschlichen Erfahrung aufzeigt und eine Grundlage für unsere Reaktion auf die Versuchungen und Anforderungen des menschlichen Lebens bietet.
Ein Augenblick des Nachdenkens zeigt, daß der menschliche Standpunkt, selbst wenn er nicht durch Gefühlsregungen erschüttert oder durch die Scheuklappen gewohnter Überzeugungen begrenzt wird, sich auf die allgemein gehegten sterblichen Anschauungen gründet, daß sowohl das Gute wie das Böse wirklich und mächtig ist, daß die Materie der Schöpfer, die Substanz und der allein bestimmende Faktor des Lebens ist und daß der Mensch daher ein sterbliches Wesen ist, ausgestattet mit einem Gemüt von begrenzten Fähigkeiten und mit einem Charakter, der sowohl erfreuliche wie unerfreuliche Züge aufweist.
Wer diesen Standpunkt einnimmt und Krankheit als vom Fleisch stammend betrachtet, sieht sich natürlich veranlaßt, zur körperlichen Heilung materielle Mittel zu benutzen. Er wird auch versuchen, die Schwächen des menschlichen Charakters und des sogenannten materiellen Gemüts mit materiell-gedanklichen Methoden zu heilen. Er wird ganz allgemein glauben, daß jede Form des Bösen zuweilen durch andere Formen des Bösen erfolgreich überwunden werden kann.
Diesem Standpunkt und allem, was er vom Leben und vom Menschen darzubieten scheint, ist der Standpunkt, den die Christliche Wissenschaft einnimmt, diametral entgegengesetzt. Er vertreibt den tief eingewurzelten Glauben an das ganz und gar illusorische Gefüge einer materiellen Gesinnung, an böse Ursächlichkeit und Macht, und erfüllt das Bewußtsein des Anhängers der Christlichen Wissenschaft mit dem wissenschaftlichen Verständnis, daß die Wirklichkeit geistig und absolut gut ist, da sie der einen unendlichen Quelle entstammt, dem göttlichen Prinzip oder Gott, der das Gemüt oder Leben des Universums ist.
Da der menschliche Standpunkt sich auf die Vorstellung gründet, daß die Wirklichkeit die Gesamtsumme des Zeugnisses der materiellen Sinne ist, erhebt sich logischerweise die Frage: Was ist die Wahrheit in bezug auf diese Sinne, zum Beispiel den Gesichts-Sinn?
Es ist selbstverständlich, daß die Augen nicht ohne das Gemüt sehen können. Es ist also das sogenannte menschliche oder sterbliche Gemüt, das den Anspruch erhebt zu sehen. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit: „Ein auf der Netzhaut widergespiegeltes Bild des sterblichen Gedankens ist alles, was das Auge erblickt. Die Materie kann weder sehen, fühlen, hören, schmecken noch riechen. Sie hat keine Kenntnis von sich selbst, kann sich selbst nicht fühlen, sehen noch verstehen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 479; Und doch glaubt das sterbliche Gemüt aus Unwissenheit, daß diese Bilder seiner eigenen Gedanken Gegenstände außerhalb seiner selbst seien. Das trifft in bezug auf das Zeugnis aller sogenannten Sinne der Materie zu. Und hier erklärt Wissenschaft und Gesundheit wiederum: „Das sterbliche Gemüt sieht, was es glaubt, ebensogewiß, wie es glaubt, was es sieht. Es fühlt, hört und sieht seine eigenen Gedanken.“ S. 86;
Die Gesamtsumme des materiellen Sinnenzeugnisses stellt also die Gesamtsumme der falschen materiellen Auffassungen dar. Diese bilden den in sich selbst vertieften menschlichen, materiellen Standpunkt. In sich selbst vertieft deswegen, weil er sich nur seiner eigenen Auffassungen und ihrer äußeren Erscheinungsformen bewußt ist. Er sieht den Menschen als einen materiellen Sterblichen, der sowohl guter wie böser Beweggründe, sowohl der Freundschaft wie der Feindschaft, sowohl liebevoller Hilfsbereitschaft wie haßerfüllter Gegnerschaft fähig ist.
Der Wandel von diesem irrigen, auf die Materie gegründeten Standpunkt zu dem geistigen und wissenschaftlich beweisbaren vollzieht sich in dem Bewußtsein des einzelnen in dem Maße, wie er durch eingehendes Studium der Christlichen Wissenschaft in natürlicher Weise aus seinem früheren Vertrauen auf das Zeugnis des materiellen Sinnes herauswächst. Dies geschieht, indem er den geistigen Standpunkt des Christus, der Wahrheit, einnimmt, der nur die geistige Augenscheinlichkeit sieht und akzeptiert. Dieser Standpunkt zeigt das Leben als die reine Widerspiegelung des vollkommenen, unendlichen Gemüts, ohne Reibungen, ohne Krankheit, ohne Druck und durchkreuzte Erwartungen und daher ohne Furcht.
Wenn wir diesen Standpunkt voller Verständnis annehmen und im täglichen Leben danach handeln, beginnen wir die volle Bedeutung der Lehren Christi Jesu zu erfassen. Die Theologie des Meisters, die aus seinem ihm angeborenen Verständnis vom Christus, der geistigen Idee von Gott und dem Menschen, kam, verlieh ihm seinen eigenen rein geistigen Standpunkt. Von ihm aus erblickte er, was die materiellen Sinne nicht wahrnehmen können: den Menschen, wie Gott ihn erschaffen hat. Mrs. Eddy legt dies eindeutig dar, wenn sie lehrt: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint.“ Und das Ergebnis? „In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eigenes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.“ S. 476;
Als der Meister die Frau anblickte, die im Ehebruch ergriffen worden war, sah er sie nicht als Sklavin der Sünde, sondern als die freie Idee Gottes. Diese Anschauung, die er mit der vollen Überzeugung von der Wahrheit vertrat, läuterte das Denken der Frau. Es ist wichtig für uns, hier zu beachten, daß des Meisters reiner, christusgemäßer Standpunkt ihn gegen den sündigen Sinn dieser Frau nicht blind machte, denn er sagte zu ihr: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Joh. 8:11; Als er die zehn Aussätzigen heilte, sah er nicht nur ihre vollkommene Identität, sondern auch den Irrtum der Aussätzigkeit, den das sterbliche Denken festhielt, denn sagte er nicht: „Gehet hin und zeiget euch den Priestern“ Luk. 17:14.?
Von gleicher Wichtigkeit für uns heute ist, daß es Jesu wissenschaftlicher, christusgemäßer Standpunkt war, der seine mentale Reaktion auf alle menschlichen Herausforderungen bestimmte, der jeden sterblichen Impuls auslöschte, Böses mit Bösem zu vergelten oder sich durch die Pfeile des Zorns und des Grolls über eine ungerechte Behandlung getroffen zu fühlen. Er bewahrte Jesus davor, der Furcht, der Enttäuschung und Verzagtheit nachzugeben.
Die Anhänger der Christlichen Wissenschaft streben danach, diesen Standpunkt zu erlangen. Sie finden bald heraus, daß dies etwas mehr und etwas anderes verlangt als ein trockenes, intellektuelles Erfassen der Bedeutung des Christus, denn die Schlußfolgerungen der menschlichen Logik allein führen nicht zu Gott. Wenn sie es täten, könnte jemand, der zwar eine etwas fragwürdige moralische Auffassung, aber die Fähigkeit hat, von einer materiellen Grundlage aus Schlußfolgerungen zu ziehen, heilen. Das kann er aber nicht. Man muß von dem heiligen Verlangen getrieben sein, im Denken und Handeln Gott näher zu kommen. Nur der Christusgeist, der im täglichen Leben bekundet wird, kann den wissenschaftlichen Standpunkt zur Entfaltung bringen, von dem aus wir erkennen, daß Leben Gott, das einzige Gemüt, ist und daß der Mensch Sein reiner, vollkommener Ausdruck ist, wahrhaftig, liebevoll und geliebt.
Das Ziel ist klar umrissen. Der Weg, es zu erreichen, ist der Weg beständiger Wachsamkeit und geistiger Selbstdisziplin. In dem Maße, wie wir uns über die irreführenden Drohungen, Versprechungen und das Drängen der materiellen Sinne erheben, wachsen wir in den wissenschaftlichen Standpunkt des Lebens hinein, den wir nicht — je nach Gelegenheit — ablegen oder einnehmen können, sondern den wir für alle Zeit beibehalten. Er wird unser eigenes Leben verschönern und bereichern und ein unaussprechlicher Gewinn für alle sein, die sich im Bereich unseres Denkens befinden.
