Nach dem plötzlichen Hinscheiden seiner Frau erhielt Hesekiel die Nachricht von der endgültigen Zerstörung Jerusalems. Er hatte das Äußerste getan, sein Volk auf diesen Schlag vorzubereiten, und sobald der Untergang Jerusalems durch einen Boten aus der zerstörten Stadt, bestätigt war (siehe Hesek. 24:15–27 und 33:21, 22), konnte der Prophet kühn und frei heraus sprechen und seine Bemühungen auf die Umwandlung und Erneuerung richten.
Es war nun seine Aufgabe, herauszufinden, was aus den Trümmern wieder aufgebaut werden konnte, und dem Rest des Volkes Israel, der das Unglück überlebt hatte, Hoffnung zu geben und Mut zuzusprechen.
Babel hatte scheinbar über Israel triumphiert, aber das Volk Gottes sollte niemals vergessen, daß Er trotz allen Anscheins auf seiner Seite war, denn selbst in seiner trübsten Stunde konnte es sich noch an Sein Wort halten, das ihm Hoffnung gab und es inspirierte: „Sie sollen erfahren, daß ich der Herr bin,“ ein Satz, der in verschiedenen Abwandlungen in diesem Buch dutzendmal vorkommt. Wieder und wieder hatten die Propheten diese vortreffliche Wahrheit verkündigt, aber wie es oft der Fall ist, hatte ihr Volk sie unbeachtet gelassen und statt dessen die heidnischen Gottheiten angebetet, wodurch die Schwächen hervorgebracht wurden, die Israel für Angriffe, Gefangenschaft und Exil anfällig machten.
Bevor sich Hesekiel der neuen und in großem Maße unterschiedlichen Situation zuwendet, die sich durch den Fall Jerusalems ergab, schreibt er eine Serie von acht Kapiteln nieder (25–32), die in dem dramatischen Wirken des Propheten als eine Pause zwischen zwei Akten angesehen werden kann. Man könnte es so betrachten, daß die ersten 24 Kapitel das bevorstehende Gericht über Israel behandeln, gefolgt von den Plänen Hesekiels für dessen Wiederaufbau. In der Zwischenzeit beschreibt Hesekiel die Übel und Verfehlungen anderer Völker, die, anstatt die Hebräer bei der Lösung ihrer Probleme und Schwierigkeiten zu unterstützen oder ihnen zu helfen, diese sogar noch vergrößerten, indem sie ihre Bemühungen verlachten und ihre Pläne verhöhnten.
Im 25. Kapitel wird Hesekiel vom Herrn ermahnt, gegen die Amoniter frei heraus zu sprechen, die über Israels Heiligtum und dessen Zerstörung in offenes Gelächter ausbrachen, und vorauszusagen, daß auch anderen benachbarten Völkern das göttliche Gericht bevorstand, wie zum Beispiel Moab und Seïr, die behauptet hatten: „Das Haus Juda ist nichts anderes als alle Völker“ (Vers 8). Dieses völlige Unverständnis für die Mission und Bedeutung Israels würde über diese Völker wie über die Edomiter und Philister (siehe Vers 14–17) den Zorn und die Rache Gottes des Herrn bringen.
Vom 26. bis 32. Kapitel stellt Hesekiel besonders die Königreiche der heidnischen Welt bloß, die Israel geplagt haben, mit der bemerkenswerten Ausnahme Babels, das jetzt anscheinend als das Instrument der ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes gegen Sein eigenes Volk angesehen wird. Obwohl „Nebukadnezar, der König von Babel“, erwähnt wird (siehe 26:7), wird von ihm hier nicht gesagt, daß er die Hebräer straft, sondern daß er zur Zerstörung von Tyrus, einem der Feinde Israels, beiträgt.
Sidon, eine bekannte phönizische Küstenstadt, hatte Israel oft verachtet, aber es „soll für das Haus Israel ... kein Dorn übrigbleiben, es zu stechen“ (28:24), sondern es wird ihm die Verheißung gegeben, in Sicherheit zu wohnen, „damit man erfahren soll, daß ich der Herr bin“ (Vers 22).
Israel sollte sich daran erinnern, daß Ägypten wiederholt versagt hatte, es wirklich zu unterstützen, und daß das Königreich Pharaos trotz dessen Macht und Stolz unter den Angriffen des babylonischen Imperiums fallen würde (siehe 30:10).
Im Anschluß an die Prophezeiungen, die die Bestrafung der heidnischen Völker voraussagten, beginnt der Prophet eine der größten Aufgaben seines Werdeganges, seine Botschaft des Wiederaufbaus, und wiederholt in beträchtlicher Einzelheit den Ruf, den Gott an ihn richtete und mit dem seine Prophetenlaufbahn begann. Ja, die Verse 17–21 im 3. Kapitel und 7–16 im 33. Kapitel im Buch Hesekiel ähneln sich sehr. In der erstgenannten Stelle wird der Umwandlung der Gottlosen wenig Beachtung geschenkt (siehe 3:18), aber das 33. Kapitel enthält die Botschaft der Umwandlung und Bekehrung: „Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe. So kehrt nun um von euren bösen Wegen. Warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Israel?“ (Vers 11.)
Vom 34. bis 39. Kapitel enthüllt der Prophet in logischer Reihenfolge drei bedeutende Gesichtspunkte des Wiederaufbaus, den geistigen, moralischen und kirchlichen, die er zum Troste und zur Ermutigung der Angehörigen seines Volkes darlegt, von denen so viele durch die Zerstörung Jerusalems gelitten hatten.
Von größerer Bedeutung ist die Prophezeiung von dem Kommen des Messias, der im Neuen Testament „der gute Hirte“ genannt wird (Joh. 10:14). Hesekiel läßt den Herrn sagen: „Darum ... will ich meiner Herde helfen, daß sie nicht mehr zum Raub werden soll... Und ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, ... nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein“ (Hesek. 34:20, 22, 23). Dies steht im lebhaften Gegensatz zu den gewissenlosen Herrschern, den sogenannten Hirten aus den Tagen des Propheten.
Dem Volk Israel, einschließlich Juda, das kürzlich von den Edomitern besetzt worden war (Edom wurde manchmal das Gebirge Seïr genannt), sollte sein eigenes Gebiet zurückerstattet werden (siehe Kap. 35; 36:8–12). Es würde „ein neues Herz und einen neuen Geist“ (36:26) erhalten und eine Auferstehung erleben, wie die Vision von den verdorrten Gebeinen es darstellt (siehe Kap. 37), die mit der zu Herzen gehenden Verheißung schließt (Vers 13, 14): „Und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, daß ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, daß ich der Herr bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr.“
In dem letzten und vielleicht krönenden Teil des Buches Hesekiel, in den Kapiteln 40 bis 48, die etwa um 572 v. Chr. geschrieben wurden, beschäftigt er sich immer noch ernstlich mit der Erneuerung, und mit Recht kann er als deren Apostel bezeichnet werden.
Trotz seines großen prophetischen Ernstes und seiner Inspiration war Hesekiel im Herzen immer ein Priester, noch konnte er je die Bedeutung der heiligen Stadt und vor allem ihren geheiligten Tempel, die jetzt beide in Trümmern lagen, vergessen.
Als er über eine seiner berühmtesten Visionen berichtete, erklärte Hesekiel: „[Da] kam die Hand des Herrn über mich. .. und stellte mich auf einen sehr hohen Berg; darauf war etwas wie der Bau einer Stadt gegen Süden“ (40:1, 2). Der Prophet ist inspiriert, in außergewöhnlicher Genauigkeit die Mauern, Tore und Türme eines neuen und geistigen Jerusalems zu beschreiben, dazu die Vorhöfe, Einrichtungsgegenstände und den Gottesdienst in einem idealen Tempel, dessen Hauptmerkmale überall Heiligkeit und Reinheit sind, dazu bestimmt, das durch die babylonischen Streitkräfte Entweihte und Zerstörte zu ersetzen.
Kein Fremder konnte diesen idealen Tempel betreten und ihn entweihen (44:9), und unter und aus ihm würden Ströme lebendigen und heilenden Wassers herausfließen. „Und an dem Strom werden an seinem Ufer auf beiden Seiten allerlei fruchtbare Bäume wachsen; und ihre Blätter werden nicht verwelken, und mit ihren Früchten hat es kein Ende. Sie werden alle Monate neue Früchte bringen; denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. Ihre Früchte werden zur Speise dienen und ihre Blätter zur Arznei“ (Hesek. 47:12; vergl. Offenb. 22:2). Aber obwohl Hesekiel erkannte, daß der eine allerhaben heilige und universelle Gott von Völkern und Einzelpersonen gleicherweise die höchsten Ideale verlangt, scheint er doch keine einheitliche und allumfassende Religion dargelegt zu haben.
Die Gottheit wird nicht mehr so angesehen, als ob sie von Juda und einem materiellen Tempel als ihrem Wohnsitz abhängig wäre; vielmehr ist das Volk von Gott abhängig, dem absoluten Herrscher in der himmlischen Stadt, deren Name sein soll: „Hier ist der Herr“ (48:35).