In neutestamentlicher Zeit drehte sich die frühe Erziehung eines jüdischen Knaben um die heiligen hebräischen Schriften, das Gesetz Mose, die Thora; sie waren die Grundlage für den Unterricht.
Die hebräische Schule war in der Synagoge am Ort, und der Unterricht, der zu Hause begonnen wurde, lag nun in den Händen des Lehrers in der Synagoge. Als Familienoberhaupt beaufsichtigte der Vater den häuslichen Unterricht, wozu auch die Ausbildung in einem Handwerk gehörte, von der die herkömmliche Erziehung keinen jüdischen Knaben befreite. Die Bezeichnungen für Jesus: „des Zimmermanns Sohn“ (Matth. 13:55) und „der Zimmermann“ (Mark. 6:3) weisen auf den Beruf hin, den er von seiner Familie her hatte. In der bildhaften Sprache, deren er sich später beim Lehren bediente, können wir Hinweise auf seine frühere Tätigkeit finden, denn der Pflug, der Balken und das Ochsenjoch kommen alle aus der Werkstatt eines Zimmermanns, wo die Arbeit neben körperlicher Kraft Genauigkeit und Geschick erfordert.
Das Städtchen Nazareth, wo Jesus seine Kindheit verlebte, erhob sich über den reichen Ebenen und fruchtbaren Tälern Galiläas. Obwohl der kleine Ort bescheiden und abgelegen war, nahm das geschäftige Treiben des Handels und Reisens seinen Weg dicht daran vorbei.
Einige Kilometer südlich erstreckte sich die weite Ebene Esdrelon — die griechische Form des hebräischen Wortes Jesreel, das oft im Alten Testament erscheint —, wo Getreide angebaut wurde. Durch diese Ebene, von der Küste bis ins Innere Palästinas, wand sich eine der belebtesten Handelsstraßen des Ostens; sie war der wichtigste Landweg von Syriens Hauptstadt Damaskus hinunter nach Ägypten. Kamelkarawanen, die seinerzeit die Güter beförderten, zogen auf dieser bedeutenden Handelsstraße dahin. Auch die Pilger benutzten sie auf ihrem Wege von und nach Jerusalem, sowie Reisende von überall her, deren Tätigkeit die Aufmerksamkeit eines jeden aufgeweckten Knaben fesseln würde.
Obwohl Nazareth von Jerusalem, dem Zentrum der jüdischen Welt, geographisch recht abgelegen war, übten die Lehren der Schriftgelehrten mit ihren unzähligen zeremoniellen Vorschriften auch dort ihren Einfluß aus. Diese maßgebende Sammlung jüdischer Tradition bildete die Grundlage für das, was später als der Talmud bekannt wurde. Erklärungen konnten hinzugefügt werden, doch eine völlige Überarbeitung war nicht zulässig.
In den Schulen der Schriftgelehrten in Jerusalem fand der Unterricht in Form von Fragen und Antworten statt. Das Studium des Gesetzes erfolgte auf streng traditionelle Weise und nur mündlich, wobei Lehrer wie Schüler sich für die Beantwortung der Fragen auf ihr Gedächtnis verließen. In solch einer Schule, als Beth Hammidrash, Haus des Studiums oder Haus der Erklärung bekannt, wurde kein Wert auf selbständiges Denken gelegt, denn man glaubte, daß jede lautwerdende Meinung von einer früheren Autorität gestützt sein müsse.
Während also der Knabe Jesus heranwuchs, war die Atmosphäre seiner Umwelt dazu angetan, ihm eine gründliche Kenntnis seines uralten hebräischen Erbes zu vermitteln.
Jeder jüdische Knabe besuchte die Synagogenschule am Ort, bis er zwölf Jahre alt war und als mündig angesehen wurde. Er war dann alt genug, um mit seinen älteren Angehörigen die üblichen Fasttage einzuhalten und die großen religiösen Festlichkeiten in Jerusalem zu besuchen. Wir können uns vorstellen, wie erwartungsvoll Jesus, nachdem er zwölf Jahre alt geworden war, seinem ersten Osterfest entgegengesehen hatte. Nun konnte er persönlich an den Zeremonien im Tempel teilnehmen und die Vorrechte und Pflichten eines erwachsenen Israeliten übernehmen.
Mit dem hohen Fest des Passahs, oder der ungesäuerten Brote, wurde der Höhepunkt in der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft gefeiert (s. 2. Mose 12:1–27). Das Passahfest war das erste der drei jährlichen Feste, wo alle Männer in den Tempel zu Jerusalem kommen sollten. Obwohl „seine Eltern... alle Jahre nach Jerusalem auf das Osterfest“ gingen, ist es möglich, daß der Knabe sie erst begleitete, als auch er rechtmäßig teilnehmen konnte. „Und da er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach Jerusalem nach dem Brauch des Festes“ (Luk. 2:41, 42).
Die Festlichkeiten des jährlichen Passahs dauerten gewöhnlich sieben Tage. Danach machten sich Joseph und Maria mit den anderen Pilgern auf den Heimweg. Und Lukas berichtet: „Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wiederum nach Jerusalem und suchten ihn“ (Vers 44, 45).
Die Besorgnis der Eltern war um so größer, als die Gegend unsicher war. Die Reisenden taten sich nach Möglichkeit zu ihrem Schutz in Gruppen zusammen, und die Vermutung, der Knabe sei unter der Menge, lag nahe.
„Und es begab sich, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte“ (Vers 46).
Diese „Lehrer“ waren zweifellos einige der gut bekannten Schriftgelehrten, der großen Lehrer jener Zeit, die von ihren Schülern mit dem Titel Rabbi (Meister) geehrt wurden. Als Mitglieder des Hohen Rates oder des Sanhedrins sollen sie es sich zur Gewohnheit gemacht haben, zur Zeit solch großer Feste wie des Passahs das Volk im Tempel zu unterweisen. Es ist möglich, daß einige sich bei dieser Gelegenheit in Diskussionen einließen. Auf alle Fälle ist aus der Bibelgeschichte die Weisheit des Knaben Jesus und sein ernster Wunsch nach Unterweisung ersichtlich. Alle, die Zeugen dieser Begebenheit waren, verwunderten sich seines Verständnisses und seiner Antworten Antworten (s. Vers 47). Nutzte er diese Gelegenheit, sich mit diesen angesehenen Autoritäten über die „Satzungen“ zu unterhalten, die er später in Frage stellen sollte? (S. Mark. 7:5–13.)
In ihrer mütterlichen Besorgnis wies Maria den Knaben mit den sanften Worten zurecht: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Jesu Antwort war von Bedeutung: „Was ist’s, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?“ (Luk. 2:48, 49.)
Dieser Bericht im Lukasevangelium weist auf den Unterschied zwischen Jesu Pflegevater Joseph und seinem himmlischen Vater, Gott, hin. Jesus war sich seiner Gotteskindschaft bewußt und schien daher erstaunt zu sein, daß seine Anwesenheit in seines Vaters Haus, dem Tempel, Maria und Joseph überrascht hatte. Der Mangel an Verständnis, mit dem seine Antwort aufgenommen wurde, war bereits ein Zeichen dafür, wie einige derer, die ihm am nächsten standen, seine große Lehre, als sie sich entfaltete, aufnehmen würden (s. Mark. 3:21).
Die Familie kehrte nach Nazareth zurück, und wir lesen über Maria die Worte, die an eine frühere Begebenheit erinnern: „Seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen“ (Luk. 2:51; s. Vers 19). Von dem Knaben berichtet der Geschichtsschreiber ganz einfach (Vers 52): „Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“
Alles, was ich habe von meinem Vater gehört,
habe ich euch kundgetan.
Johannes 15:15
