Die Tage des Wirkens Christi Jesu eilten der Kreuzigung entgegen. Nachdem er die wesentlichen Punkte seiner prophetischen Rede an seine Jünger auf dem Ölberg ausgeführt hatte, verlieh er seiner Lehre dadurch Nachdruck, daß er sich einiger Beispiele bediente, die als Gleichnisse der Bereitschaft bezeichnet werden könnten. So wie die Blätter der Feigenbäume ein sicheres Zeichen des herannahenden Sommers waren, so waren die sonderbaren Ereignisse, die er vorausgesagt hatte, Symbole dessen, was noch kommen sollte, und seine Nachfolger sollten wie zuverlässige Türhüter, wachsame Verwalter und treue Diener sein (s. Matth. 24:42–51; Mark. 13:32–37).
In diesem Zusammenhang erzählte der Meister das Gleichnis von den zehn Jungfrauen. Wenn er in früheren Beispielen die Notwendigkeit betont hatte, vor dem Bösen auf der Hut zu sein, so wies er in diesem Falle darauf hin, wie wichtig es ist, sich freudig auf das Kommen des Reiches Gottes vorzubereiten. Den Hintergrund hierfür bildet das freudige Ereignis eines palästinensischen Hochzeitszuges, und wie einfach die Geschichte auch ist, sie enthält jede notwendige Einzelheit. In diesem wie in den anderen bemerkenswerten Gleichnissen des Meisters liegt eine Tiefe, die keineswegs durch das schlichte Erzählen beeinträchtigt wird. Der Wachsamkeit, Voraussicht und Vorsorge von fünf der jungfräulichen Begleiterinnen stehen Untätigkeit, Aufschub und ungenügende Vorbereitung seitens der anderen fünf gegenüber, die „töricht“ waren. Als diese schließlich das nötige Öl erhielten, nützte es ihnen nichts. Als der Bräutigam unvermittelt eintraf, gab es für sie keine Freude, nur Enttäuschung (s. Matth. 25:1–13).
Das Gleichnis von den anvertrauten Zentnern (s. Vers 14–30) folgt unmittelbar danach — ein anderes Gleichnis vom Himmelreich, in dem hervorgehoben wird, wie wichtig es ist, sowohl fleißig wie auch wachsam zu sein. Der Mann in der Geschichte zieht „über Land“ und vertraut seinen Knechten seine Habe an, die als Zentner beschrieben wird. Ein Zentner, ursprünglich eine Maßeinheit für Gewichte, stellte einen großen Betrag dar; Goodspeed übersetzt es als 1.000 Dollar.
„Einem gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, einem jeden nach seiner Tüchtigkeit, und zog hinweg.“ Der Mann, der fünf Zentner erhalten hatte, legte sie weise an und verdoppelte ihren Wert; er wurde von seinem Arbeitgeber gelobt, als dieser zurückkam. Ebenso wurde der, dem zwei Zentner gegeben worden waren, gelobt, daß er die Kapitalanlage verdoppelt hatte. Aber derjenige, der einen Zentner erhalten hatte, bewahrte ihn auf und wurde wegen seines mangelnden Unternehmungsgeistes gerügt. Dieses Gleichnis, das Matthäus gemäß auf dem Ölberg ausschließlich an die zwölf Jünger gerichtet war, unterscheidet sich in wesentlichen Einzelheiten von dem Gleichnis der anvertrauten Pfunde im Lukasevangelium (s. 19:11–26), das der Meister ihnen gab, als sie auf dem Wege von Jericho nach Jerusalem waren.
Das nächste Beispiel im Matthäusevangelium, das Gleichnis von den Schafen und Böcken (s. 25:31–46), behandelt die Frage des zukünftigen Gerichts, bei dem die Elemente des Guten und Bösen in den Völkern voneinander getrennt werden sollen. Ehre und Segen würden jene als Belohnung empfangen, die zur Rechten standen — die Schafe —, während die zur Linken — die Böcke — gebührend gestraft würden, nicht nur weil sie falsch gehandelt, sondern weil sie es auch unterlassen hatten, Nächstenliebe zu üben. Des „Menschen Sohn“, der in diesem Gleichnis der Richter ist, macht es klar, daß ein Akt der Freundlichkeit gegen den geringsten unter unseren Mitmenschen so betrachtet werde, als würde es für ihn und gewissermaßen ihm selbst getan. „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Alle Synoptiker erwähnen an diesem Punkt, daß die Feinde des Meisters, die Hohenpriester und Schriftgelehrten, die keineswegs in ihrer Feindseligkeit nachgelassen hatten, tatsächlich Mittel und Wege suchten, um ihn umzubringen. Matthäus berichtet von einer Konferenz, die zu diesem Zweck im Palast des Kaiphas, des Hohenpriesters, stattfand. Furcht vor dem Volk, das sich für die Festlichkeiten des Passahs versammelt hatte, hielt die Feinde Jesu vorerst davon ab. Doch Jesus wußte wohl, was über ihn kommen sollte und wann es sich ereignen würde (s. Matth. 26:1–5; Mark. 14:1, 2; Luk. 22:1, 2).
In den Evangelien finden wir mehrere unterschiedliche Berichte von einem Mahl oder einem Abendessen, bei dem Jesus der Ehrengast war. In jedem Fall zeigt eine Frau ihre Hingabe, indem sie sein Haupt oder seine Füße salbt. Abweichungen in diesen Berichten haben es den Gelehrten erschwert, in der Analyse der Ereignisse zu einer Übereinstimmung zu kommen. Wie oft hat sich dies zugetragen — und wenn mehrere Male, wo und wann?
Das Abendessen im Hause Simons in Bethanien, von dem Matthäus und Markus berichten, mag dasselbe sein, das von Johannes beschrieben wird, obwohl Johannes die Gäste, nicht aber den Gastgeber erwähnt und sagt, daß Martha diente. Es bestehen noch andere Unterschiede, wie z. B. die Zeit des Festessens. Matthäus erwähnt in seinem Bericht dieses Ereignisses „zwei Tage“ vor dem Passahfest, während Johannes es mehrere Tage früher ansetzt, als Jesus zum erstenmal nach Bethanien zurückkehrte und vor seinem triumphalen Einzug in Jerusalem (s. Matth. 26:2, 6–13; Mark. 14:1, 3–9; Joh. 12:1–8).
Lukas beschreibt ein anderes Festmahl, das einige Monate und möglicherweise sogar ein Jahr vorher in Galiläa im Hause des Pharisäers Simon stattgefunden hatte (s. 7:36–50). Simon von Bethanien war als „der Aussätzige“ bekannt, obwohl er geheilt worden war, sonst wäre es ihm nicht erlaubt gewesen, sich unter die Menschen zu begeben.
Beim Festmahl in Galiläa kam eine namenlose Frau von der Straße, die als „eine Sünderin“ bezeichnet wurde, um die Füße des Meisters zu salben. Beim Abendmahl in Bethanien war es, wie Johannes berichtet, Maria, die Schwester von Martha und Lazarus, die diesen Akt der Höflichkeit und Dankbarkeit verrichtete. Das frühere Mal war es sein Gastgeber, der überrascht war, daß Jesus die Zuneigung der Frau akzeptierte. In Bethanien wurde die Rüge seitens der Gäste oder der Jünger laut — Johannes sagt, sie kam von Judas —, und zwar aus einem anderen Grund.
Von Johannes erfahren wir, daß Judas nicht nur der Schatzmeister der Apostelgruppe war, sondern daß er auch von ihrem spärlichen Vorrat stahl; und als er sah, wie dieses kostbare Öl seiner Meinung nach verschwendet wurde, regte sich bei ihm offenbar seine Habsucht. „Da sprach seiner Jünger einer, Judas Ischarioth ...: Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Silbergroschen und den Armen gegeben? Das sagte er aber nicht, weil er nach den Armen fragte, sondern er war ein Dieb und hatte den Beutel und nahm an sich, was gegeben ward“ (Joh. 12:4–6). Wie kostbar das Alabasterkästchen mit Salbe auch gewesen sein mochte, der Wert der Verehrung war weit größer und beständiger, denn wie der Meister sagte (Matth. 26:11): „Arme habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit.“ Und so lobte Jesus Maria für das, was sie getan hatte, und fügte bedeutungsvoll hinzu, daß sie durch diese Handlung tatsächlich seinen Körper fürs Begräbnis vorbereitet habe.
Danach ging Judas zu den Hohenpriestern in Jerusalem, um mit ihnen über den Verrat Jesu zu verhandeln. „Es war aber der Satan gefahren in den Judas“, erklärt Lukas ganz einfach (22:3). Der Handel wurde entweder zur selben Zeit oder sehr bald danach abgeschlossen, und Judas erklärte sich einverstanden, seinen Meister gegen eine Summe von „dreißig Silberlingen“ zu verkaufen, die dem alttestamentlichen Gesetz gemäß das Lösegeld für einen verletzten Sklaven darstellte (s. Matth. 26:14, 15; Mark. 14:10, 11; Luk. 22:3–6; vgl. 2. Mose 21:32).
