Nachdem Jesus im Hause des Simon zu Bethanien gesalbt worden war, fand das nächste Ereignis, wie Matthäus und Markus berichten, am Donnerstag statt, dem „ersten Tage der ungesäuerten Brote, da man das Osterlamm opferte“ (Mark. 14:12). Damit ist natürlich die Opferung des Passahlammes gemeint, die an jenem Nachmittag stattfand, ehe das Fest offiziell bei Sonnenuntergang eröffnet wurde. Als die Jünger fragten, was sie für das Passah vorbereiten sollten, schickte er zwei von ihnen mit ausdrücklichen Anweisungen in die Stadt. Sie würden einem Mann begegnen, der einen Krug mit Wasser tragen und sie zu einem bestimmten Haus führen würde. Dort sollte ihnen der Ehrenplatz gezeigt werden, ein großer Saal, mit Polstern versehen und für ihn bereit, wenn er mit seinen Freunden das Passah hielt.
Sie folgten seinen Anweisungen, gingen vor ihm in die Stadt und trafen alle Vorbereitungen. So ergab es sich, daß bei Einbruch der Dunkelheit der Nazarener und seine Apostel am Vorabend seiner Kreuzigung zu diesem denkwürdigen Mahl versammelt waren (s. Matth. 26:17–20; Mark. 14:12–17; Luk. 22:7–14; vgl. 2. Mose 12:1–28).
Das Passah war ein formelles Festmahl; die vorgeschriebenen Speisen und der Wein sowie die religiösen Zeremonien, die es kennzeichneten, mußten vorbereitet werden. Dies führte einige zu der Vermutung, daß der Meister den Gastgeber kannte und bereits alles im voraus geplant hatte, unter anderem das unverkennbare Zeichen, einen Mann, der einen Krug mit Wasser trug, was in einem Land, wo dies die Frauen taten, auffiel. Nach mündlicher Überlieferung war es das Haus des Johannes Markus, der der Sohn einer Frau namens Maria und der Verfasser des zweiten Evangeliums war (vgl. Apg. 12:12). Der Gastgeber hatte sich offenbar sehr bemüht, den Saal für ihre Benutzung behaglich auszustatten.
Als sie beisammensaßen, so berichtet uns Lukas, sprach der Meister von seinem Wunsch, dieses letzte Passahfest mit ihnen vor seiner Kreuzigung zu begehen (s. 22:15). Bei früheren Gelegenheiten hatte er darauf hingewiesen, daß seine Verhaftung und Verurteilung durch Verrat herbeigeführt würden, nun aber erklärte er ausdrücklich, daß der Verräter einer seiner eigenen Apostel sei. Wie Johannes, der dieses Ereignis später am Abend ansetzte, berichtet, „ward er betrübt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“ Entsetzt sahen sich die Jünger an and fragten sich untereinander und Jesus selbst, wer denn der Schuldige sei.
Auf die Frage des Jüngers, „welchen Jesus lieb hatte“, antwortete der Meister, daß er dem Verräter einen „Bissen“, ein in eine Soße getunktes Stückchen Brot, geben und ihn dadurch bekannt machen würde. Die anderen Evangelisten drücken sich allgemeiner aus, indem Jesus den Verräter lediglich als einen zu erkennen gibt, der mit ihnen zu Tische saß (s. Joh. 13:21–26; vgl. Matth. 26:21–23; Mark. 14:18–20; Luk. 22:21–23). Obwohl sein Los unabwendbar war, rief Jesus (Matth. 26:24): „Weh dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird! Es wäre ihm besser, daß derselbe Mensch nie geboren wäre.“ Dann lenkte Judas durch seine Frage: „Bin ich's?“ den Verdacht auf sich.
Wenn auch die Synoptiker in der Beschreibung dieses Mahles etwas voneinander abweichen, so sind sie sich doch im wesentlichen über die hauptsächliche Handlung einig. Lukas berichtet: Jesus „nahm das Brot, dankte and brach's und gab's ihnen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Desselbigengleichen auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird“ (s. Luk. 22:17–20; Matth. 26:26–28; Mark. 14:22–24; vgl. 1. Kor. 11:23–26). Johannes erwähnt dieses äußerst bedeutungsvolle Ereignis nicht, aber er gibt uns eine enge Parallele hierzu bei einer früheren Gelegenheit, wo Jesus sagte (6:56): „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“
Von nun an würde das Mahl zur Feier des alten Bundes für die Nachfolger Jesu eine neue, tiefere Bedeutung haben. Trotz allem erhob sich Lukas gemäß ein Zank unter den Zwölfen darüber, „welcher unter ihnen sollte für den Größten gehalten werden“. In ihrem Eifer scheinen sie der bedeutungsvollen Erklärung Jesu, daß dies sein letztes Passahfest zusammen mit ihnen auf der Erde sei, wenig Beachtung geschenkt zu haben. Liebevoll tadelte er sie wegen ihrer Zwietracht und wies sie darauf hin, daß sie sich nicht der Auffassung der Völker bezüglich irgendeines Vorrangs anschließen sollten. Der Größte sollte wie der Jüngste sein und der Vornehmste wie ein Diener (s. Luk. 22:24–27).
Johannes veranschaulicht Jesu eigenen praktischen Beweis dieser Demut: „Jesus wußte, daß ihm der Vater hatte alles in seine Hände gegeben und daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging“, und daher stand er vom Abendmahl auf und wusch die Füße seiner Jünger, eine Dienstleistung, die gewöhnlich von Sklaven vorgenommen wurde. Petrus und zweifellos auch den anderen muß dies tatsächlich seltsam vorgekommen sein, bis Jesus erklärte, daß durch diese Waschung eine Forderung zur Gemeinschaft mit ihm erfüllt werde. Impulsiv verfiel dann Petrus in das gegenteilige Extrem und rief: „Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt.“ Wenn derjenige, den sie ihren Herrn und Meister nannten, diesen Dienst für sie tun konnte, sollten sie dies doch gewiß auch untereinander tun, erklärte Jesus (s. 13:2–15).
Über ihr bestürztes Fragen, wer denn der Verräter sei, scheinen die Apostel die Antwort ihres Meisters nicht gehört zu haben oder zumindest nicht die Bedeutung des Bissens verstanden zu haben, den er Judas gab. Als er zu Judas sagte: „Was du tust, das tue bald!“, wußten sie nicht, was er damit meinte. Der Verräter ging dann in die Nacht hinaus (s. Joh. 13:26–30).
Dem Johannesevangelium zufolge erklommen die Worte des Meisters, nachdem Judas weggegangen war, neue Höhen der Inspiration und liebevollen Weisung: „Nun ist des Menschen Sohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in ihm.. . Liebe Kinder, ich bin noch eine kleine Weile bei euch. Ihr werdet mich suchen; und wie ich zu den Juden sagte: Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen, so sage ich jetzt auch euch. Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habet. Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt“ (Joh. 13:31–35).
Die übrigen elf würden keine so niedrige Tat wie den Verrat des Judas begehen, aber selbst sie könnten sich jeden Augenblick als untreu erweisen. Jesus sagte ihnen voraus, daß sie alle noch am selben Abend „Ärgernis“ an ihm nehmen würden (s. Matth. 26:31). Die Treue eines jeden seiner Nachfolger sollte auf eine harte Probe gestellt werden. Doch er würde sie niemals verlassen; ja, Matthäus gemäß verhieß er ihnen nun, daß sie sich nach seiner Auferstehung wieder in Galiläa sehen würden (s. 26:32). Wie Lukas berichtet, wandte er sich dann allein an Petrus mit den Worten: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat euer begehrt, daß er euch möchte sichten wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dermaleinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder.“ Wenn auch Petrus seine stete Treue und Hingabe zu seinem Meister beteuerte, sollte er ihn vor Tagesanbruch dreimal verleugnen (Luk. 22:31–34; vgl. Matth. 26:31–35; Mark. 14:27–31; Joh. 13:36–38).
Ehe sie den Saal verließen, um nach Gethsemane zu gehen, richtete Jesus, so wird uns erzählt, die bekannten und schönen Worte im 14. Kapitel des Johannesevangeliums an seine Nachfolger. Sie waren tatsächlich ein Segen — eine Botschaft des Trostes und der Liebe, der Zärtlichkeit und des Friedens. Wenn er auch selbst bald weiterginge, so würde er doch einen anderen Tröster schicken, der immer bei ihnen bliebe. Er beschloß diesen Teil seiner Rede mit den Worten: „Stehet auf und lasset uns von hinnen gehen.“
