Es ist interessant, einmal zu betrachten, was man über den berühmten Rabbi Gamaliel weiß, der, dessen können wir gewiß sein, einen starken Einfluß auf seinen begeisterten jungen Schüler, Saul von Tarsus, ausübte. Gamaliel war ein bemerkenswert gemäßigter Pharisäer, unter den Juden als Rabban verehrt, ein hoher Titel für einen Doktor der Rechte. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte er nichts gegen griechische Gelehrsamkeit einzuwenden. So eignete er sich besonders gut als Lehrer für den jungen Saulus, der in seiner Kindheit jüdischen wie auch heidnischen Einflüssen ausgesetzt war und dessen zukünftige Tätigkeit ihn in engen Kontakt mit Griechen und Juden bringen sollte.
Aufgrund seiner liberalen Gesinnung zog sich Gamaliel natürlich ebensogewiß das Mißfallen vieler anderer Pharisäer zu, wie er die Zuneigung des Volkes gewann; aber trotz all dem hat er vermutlich eine hohe Stellung an der Hochschule für Rabbiner in Jerusalem erreicht. Im Talmud wird folgendes über ihn gesagt: „Als Rabban Gamaliel der Ältere starb, nahm die Herrlichkeit des Gesetzes ein Ende, und mit ihm starben Lauterkeit und Enthaltsamkeit.“ In der Apostelgeschichte (5:34 — n. der Mengebibel) wird er als „ein beim ganzen Volk hochangesehener Gesetzeslehrer“ beschrieben. Die folgenden Verse (35–39) zeigen, wie er die anderen Mitglieder des jüdischen Hohen Rates, des Sanhedrins, dazu überredete, die Apostel nicht umzubringen. Er erklärte: „Ist der Rat oder das Werk aus den Menschen, so wird's untergehen; ist's aber aus Gott, so könnt ihr sie nicht hindern; auf daß ihr nicht erfunden werdet als solche, die wider Gott streiten wollen.“
Kurz, es ist offensichtlich, daß Gamaliel zu den rücksichtsvolleren, freundlicheren und gemäßigteren Mitgliedern der Partei der Pharisäer zählte, der, was wir nicht vergessen dürfen, auch Männer wie Nikodemus angehörten, der in der Nacht zu Jesus um Unterweisung kam (s. Joh. 3:1, 2), und wahrscheinlich Joseph von Arimathia, der „auf das Reich Gottes wartete“ und für Jesu Grablegung nach der Kreuzigung sorgte (s. Mark. 15:43–46). Wir haben keinen stichhaltigen Grund, anzunehmen, daß sich Gamaliel wie sein berühmter Schüler zum Christentum bekehrte; doch in ihm entdecken wir die edlere Seite des Pharisäertums. Der junge Saulus fand in seinem Lehrer nicht nur einen großen Verfechter des hebräischen Gesetzes, sondern auch einen Menschen, dessen Fairneß und Toleranz an sich schon eine Ausbildung gewesen sein muß, die das Denken des Apostels, ohne daß er sich dessen bewußt war, auf jenes höhere Gesetz der Freiheit vorbereitete, mit dem er sich in späteren Jahren sehr beschäftigte.
Der Apostelgeschichte entnehmen wir, daß Paulus „zu den Füßen Gamaliels“ (22:3) unterwiesen worden war. Zu Paulus’ Zeiten stimmte dies buchstäblich. Der Lehrer saß gewöhnlich auf einem Podium oder einem erhöhten Sitz, und seine Schüler saßen um ihn her auf dem Fußboden. Ja, ein jüdisches Sprichwort besagte, daß „die Menschen sich im Staub der Füße der Weisen pudern“ sollten, wenn sie Weisheit lernen wollten.
Das Studium im „Haus der Erklärung“, das Paulus in Jerusalem besuchte, konzentrierte sich, wie in ähnlichen Schulen überall im Lande, auf die mündlichen Überlieferungen, die das Gesetz des Alten Testaments auslegten; es wurde erwartet, daß diese überlieferten Grundsätze peinlich genau auswendig gelernt wurden. Gelegentlich finden wir in den Schriften des Paulus Spuren einer anderen Art der Auslegung — sie befaßt sich mit der historischen Seite der hebräischen Schriften —, die er während seiner Ausbildung zum Rabbiner ebenfalls gelernt haben würde. Ein solches Beispiel haben wir in seiner Allegorie von der Freiheit, wo er sagt: „Hagar [die Magd, die die Mutter von Abrahams Sohn Ismael war] heißt in Arabien der Berg Sinai“ (s. Gal. 4:22–26).
Die Überlieferungen der Ältesten mögen in einigen Fällen wertvoll gewesen sein, doch sie waren dazu angetan, eine Sammlung willkürlicher menschlicher Meinungen und Bestimmungen zu werden. Jesus hatte Grund, diejenigen zurechtzuweisen, die „Gottes Gebot“ aufheben, auf daß sie ihre Satzungen halten (s. Mark. 7:9). Andererseits spielten die Jahre, die Paulus „zu den Füßen Gamaliels“ verbrachte, eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung auf seine wirkliche Lebensaufgabe, denn der Schwulst überlieferter Meinungen und Bestimmungen, auf die die Rabbiner so viel Wert legten, gründete sich auf ein sorgfältiges und genaues Studium der hebräischen Schriften. Wenn auch der Jünger dieses toleranten Rabbiners die Verfolgung der Christen mit fanatischem Eifer aufnahm, so sollte doch der Same der gemäßigten Haltung Gamaliels in späteren Jahren Frucht tragen, in dem Werk jenes Paulus, der „allen alles geworden“ war (1. Kor. 9:22).
Saulus, der sehr wahrscheinlich in seiner frühen Jugend nach Jerusalem gekommen war, blieb wohl einige Jahre dort. Es ist anzunehmen, daß er bei seiner Schwester und deren Mann wohnte, und für jemanden, der in Tarsus in Cilicien aufgewachsen war, wäre es natürlich, die in der Apostelgeschichte 6:9 erwähnte Synagoge der Cilicier zu besuchen. Auch dürfen wir annehmen, daß er oft in den Tempel ging. Was aber die Zeit von seiner Ankunft in Jerusalem bis zu seinem Auftritt als Führer der Christenverfolger betrifft — eine Zeitspanne von etwa 20 Jahren —, so wissen wir leider nur wenig oder nichts Genaues über ihn.
Wir wissen nicht, ob der Apostel je verheiratet war, obgleich einige Umstände uns vermuten lassen könnten, daß er ein Ehemann und Vater gewesen war. Es stimmt, daß Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther schreibt (7:8): „Den Ledigen und Witwen sage ich: Es ist ihnen gut, wenn sie auch bleiben wie ich.“ Doch das Wort „Witwen“ mag in diesem Falle auch als „Witwer“ verstanden werden. Es ist also gut möglich, daß Paulus, wie manche Gelehrte glauben, damals selbst ein Witwer war und daß seine Frau und sein Kind nicht mehr lebten, als er sein heiliges Amt antrat. Nach hebräischer Sitte sollte ein Jude im Alter von 18 Jahren oder noch früher heiraten und Kinder haben.
War Paulus wie Gamaliel ein Mitglied des Sanhedrins? Manche haben dies vermutet. Der Hinweis, daß Saulus half, das Urteil gegen die Nachfolger Jesu zu sprechen (s. Apg. 26:10), braucht jedoch an sich nicht zu bedeuten, daß er Mitglied des Hohen Rates war. Die Tatsache, daß er ein junge Mann war, als Stephanus den Märtyrertod starb, würde ebenfalls dagegen sprechen, daß er einen Platz unter den Ältesten, den Hohenpriestern und Schriftgelehrten hatte, aus denen sich der Sanhedrin zusammensetzte.
Wir können sicher sein, daß Saulus der Pharisäer als junger Mann und nach seiner Ausbildung zum Rabbiner weiterhin das heilige Gesetz seiner Väter studierte und befolgte, und zwar mit jenem leidenschaftlichen Eifer, den er zuerst als Verfolger der Christen und später als standhafter Anhänger ihrer Religion an den Tag legte.
Wir haben etwas über die Herkunft Sauls von Tarsus erfahren sowie über die Einflüsse, die dazu beitrugen, seine Kindheit zu formen. Wir haben gesehen, daß er ein Mann voller Widersprüche war, ein Hebräer, der zugleich Römer war, ein Israelit, der stolz war, Bürger einer griechischen Stadt zu sein, und schließlich ein Pharisäer, der vor allem ein Christ werden sollte.
Die Jahre, die er als Kind und junger Mann in Tarsus und in Jerusalem verbrachte, Jahre, über die uns nur wenig bekannt ist, können sehr wohl mit der Jugend Jesu verglichen werden, die er in Nazareth verbrachte und von der wir ebensowenig wissen. Der Zimmermann von Nazareth und der Zelttuchweber von Tarsus bereiteten sich in aller Stille vor: der eine, um den christlichen Glauben zu begründen, der andere, um ihn in fernen Ländern einzuführen. Paulus’ Leben zu jener Zeit läßt sich gut mit seinen eigenen Worten zusammenfassen, die er zu seiner Verteidigung vor dem König Agrippa sprach (Apg. 26:4, 5): „Mein Leben von Jugend auf... ist allen Juden bekannt... nach der allerstrengsten Sekte unsers Glaubens habe ich gelebt als Pharisäer.“