Als Judas an dem Abend, wo Jesus das letzte Mahl mit seinen Jüngern einnahm, das Obergemach verließ, ging er offenbar zu der jüdischen Obrigkeit — den Hohenpriestern, Schriftgelehrten und Ältesten —, und diese unterstellte ihm eine Schar von Männern, die er zum Garten Gethsemane führen sollte. Dort hatte Jesus viele Male mit seinen Jüngern gesprochen, denn Johannes schreibt: „Judas aber, der ihn verriet, wußte den Ort auch, denn Jesus versammelte sich oft daselbst mit seinen Jüngern“ (18:2).
So geschah es, daß Jesus, nachdem er im Garten gebetet und sich dem Willen Gottes gebeugt hatte, kaum seinen Begleitern den bevorstehenden Verrat verkündet hatte, als aus der Dunkelheit eine Schar von Männern auf ihn zukam. Einige trugen Lampen und Fackeln, andere Schwerter und Stangen. Matthäus und Markus berichten, daß es eine „große Schar“ gewesen sei, die von der jüdischen Obrigkeit ausgeschickt worden war, während Lukas außerdem die Tempelpolizei erwähnt und erzählt, daß auch die Hohenpriester und die Ältesten in Person dort gewesen seien.
Johannes berichtet uns, daß Jesus ihnen mit einer Frage entgegenging und daß sie zurückwichen, als er ihnen ruhig erklärte, er sei der Jesus von Nazareth, den sie suchten. Den Synoptikern gemäß ging Judas auf Jesus zu und küßte ihn, wodurch er diesen sanften, wehrlosen Galiläer als den Verbrecher zu erkennen gab, zu dessen Gefangennahme sie ausgesandt worden waren. In diesem Augenblick der Gefahr bat Jesus in zärtlicher Weise darum, daß man seine Freunde gehen ließe (s. Joh. 18:3–9; vgl. Matth. 26:47–50; Mark. 14:43–46; Luk. 22:47, 48).
Sogleich zog Petrus das Schwert, das er trug, schwang es und hieb Malchus, dem Knecht des Hohenpriesters, das Ohr ab. Doch Jesus forderte ihn auf, das Schwert einzustecken: „Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ (Joh. 18:11.) Selbst in dieser Krise versäumte der Meister nicht, die heilende Macht anzuwenden, die er so oft ausgeübt hatte. Er hatte seinen Jüngern ans Herz gelegt, ihre Feinde zu lieben (s. Matth. 5:44), und nun heilte er einen von denen, deren Kommen seinen Tod ankündigte. Seine Sicherheit war gewiß, wollte er Gott, seinen Vater, um Hilfe bitten. Doch wie er selbst sagte, wie würde er dann die Prophezeiung in der Heiligen Schrift erfüllen? (S. Matth. 26:51–54; Mark. 14:47; Luk. 22:50, 51; Joh. 18:10, 11; vgl. Jes. 53:7–10.)
Auf Befehl des Oberhauptmanns wurde Jesus gefangengenommen und gefesselt (s. Joh. 18:12), obwohl er diejenigen, die ihn gefangennahmen, darauf hinwies, daß all diese Vorkehrungen nicht notwendig seien. Er sei kein Mörder, erklärte er ihnen. Sie brauchten ihn nicht mitten in der Nacht zu suchen; tagaus, tagein hätten sie ihn im Tempel finden können, wo er den Menschen predigte. Er hatte von sich als dem Licht der Welt gesprochen. Doch Judas und seine Genossen scheuten das Licht im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne. Daher sagte Jesus, als er inmitten der dunklen Schatten in Gethsemane zu ihnen sprach: „Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“ (s. Luk. 22:52, 53; vgl. Matth. 26:55; Mark. 14:48, 49). Und so sah es tatsächlich aus, denn nun „verließen ihn alle Jünger und flohen“ (Matth. 26:56).
Markus (14:51, 52) berichtet von einem jungen Mann, der Jesus gefolgt war und der, als ihn die Kriegsknechte griffen, davonlief und die Leinwand oder das Tuch, das er sich wahrscheinlich in aller Eile umgeworfen hatte, fahrenließ. Gelehrte vermuten, daß dieser junge Mann vielleicht Markus selbst war, wenn auch das Evangelium diese Mutmaßung nicht bekräftigt.
Bevor das endgültige Urteil gesprochen wurde, mußte der Meister mehrere unterschiedliche Untersuchungen oder Stufen des Verhörs über sich ergehen lassen. Zuerst wurde er vor Hannas, den vormaligen Hohenpriester, geführt, der wegen seines Alters und seiner Erfahrung bei der jüdischen Obrigkeit hohes Ansehen genoß (s. Joh. 18:13).
Als Jesus über seine Lehre befragt wurde, wiederholte er Hannas gegenüber, was er im Garten gesagt hatte, nämlich daß er in aller Öffentlichkeit gepredigt habe. Er habe in der Synagoge und im Tempel gelehrt. Es sei nicht im Verborgenen geschehen, und Hannas solle diejenigen fragen, die ihn gehört hatten, anstatt ihn selbst. Daraufhin schlug ihn einer der Diener und stellte ihn zur Rede, weil er es wagte, in solcher Weise zu dem Hohenpriester zu sprechen. Jesus entgegnete, daß er recht geredet habe und nicht geschlagen werden sollte (s. Joh. 18:19–23). Die ruhige Logik, mit der er geantwortet hatte, muß Hannas verblüfft und geärgert haben. Er sandte Jesus, immer noch gebunden, zu Kaiphas, seinem Schwiegersohn, dem amtierenden Hohenpriester.
Diese zweite Untersuchung ist anscheinend viel umfassender gewesen. Sie fand im Palast des Kaiphas statt, und offenbar war der jüdische Hohe Rat, der Sanhedrin, anwesend, einschließlich aller „Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten“ (Mark. 14:53). Doch diese Männer waren ebensowenig geneigt, eine unparteiische Untersuchung anzustellen, wie Hannas es gewesen war.
Da sie keinen gerechten Grund zu seiner Verurteilung finden konnten, konzentrierten sich die Mitglieder des Sanhedrins darauf, Zeugen — selbst falsche Zeugen — gegen ihn aufzustellen. Schließlich meldeten sich viele Zeugen, von denen einige aussagten, sie hätten gehört, daß er gesagt habe: „Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht ist.“ Aber auch bei dieser Beschuldigung, die eine völlig falsche Auslegung dessen war, was er meinte, waren ihre Aussagen so unterschiedlich, daß die jüdische Obrigkeit nicht wußte, was sie tun sollte (s. Mark 14:55–59; Matth. 26:59–61).
Die ganze Zeit über stand der Nazarener schweigend da, und schließlich stellte Kaiphas die eindringliche und folgenschwere Frage: „Bist du der Christus?“ Die bejahende Antwort des Meisters wurde als Gotteslästerung aufgefaßt, ein Vergehen, auf dem nach jüdischem Gesetz die Todesstrafe stand (s. 3. Mose 24:16). Hier, sagten sie, hatten sie genügend Zeugnis gegen ihn, und als der Hohepriester der Form wegen die Anwesenden diesbezüglich um ihre Meinung befragte, erhob sich einstimmig der Ruf: „Er ist des Todes schuldig“ d. h., er verdient den Tod. Dann ließen sie ihren Ärger darüber, daß er sie durch seine Gelassenheit tadelte, an ihm aus, indem sie ihn anspien, verspotteten und schlugen (s. Matth. 26:62–68; Mark. 14:60–65; Luk. 22:63–71).
Bei Jesu Festnahme im Garten Gethsemane hatten alle seine Jünger vor Entsetzen die Flucht ergriffen. Nachdem Petrus sich wieder teilweise von seiner panischen Angst erholt hatte, folgte er ihm in sicherem Abstand. Im vierten Evangelium wird ein „anderer Jünger“ erwähnt, vielleicht Johannes, der den Hohenpriester kannte und Jesus in den Palast des Hohenpriesters nachfolgte.
Während der Meister verhört wurde, mischten sich die beiden Jünger unter die Menschenmenge im Vorhof — Petrus erlangte Zutritt, weil der andere Jünger herauskam und ihn hineinführte. Die Anwesenheit dieses Jüngers erregte offenbar kein Aufsehen, denn er war — zumindest der Türhüterin — gut bekannt. Als sie aber Petrus fragte — vielleicht ganz unschuldig —, ob auch er einer der Nachfolger Jesu sei, verneinte er dies schnell und nachdrücklich. Durch seine Unsicherheit mag er gerade die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben, die er zu vermeiden suchte. Ein zweites Mal wurde er gefragt, ob er einer der Jünger sei, und wieder leugnete er dies. Als jemand behauptete, er habe ihn in Gethsemane gesehen, und hinzufügte, er müsse einer der Nachfolger Jesu sein, da sein galiläischer Akzent ihn verrate, verlor Petrus, von Todesangst ergriffen, alle Herrschaft über sich und schwur rundweg, daß er den Mann nie gesehen habe.
In dem Augenblick wurde Jesus aus dem Richthaus geführt, und Petrus spürte, wie sein Blick auf ihm ruhte; und als er den Hahn krähen hörte, dachte Petrus daran, daß sein Meister seine Untreue vorausgesagt hatte, und er „ging hinaus und weinte bitterlich“, wie Lukas berichtet (s. Luk. 22:54–62; Matth. 26:58, 69–75; Mark. 14:54, 66–72; Joh. 18:15–18, 25–27).