Betti war drei Jahre jünger als ihr Bruder Roland. Nachdem Betti geboren war, kam der Großvater, Mutters Vater, und lebte bei ihnen. Die Mutter sagte, er sei der „geborene Babysitter“.
Als Betti in die Schule ging, war sie offensichtlich Großvaters Liebling geworden. Viele Male machte sie etwas verkehrt, und Roland wurde dafür gescholten. Um ihn zu ärgern, tat Betti manchmal so, als ob er ihr wehgetan hätte, so daß der Großvater ihn ausschimpfen würde.
Roland fand das überhaupt nicht spaßig. Er sagte sich, daß es zwar durchaus in Ordnung sei, wenn der Großvater Betti lieber habe als ihn, daß es aber nicht fair sei, immer etwas an ihm auszusetzen zu haben.
Er fühlte sich ungerecht behandelt und konnte dieses Gefühl nicht loswerden. Es half auch nicht viel, daß die Eltern sagten, der Großvater sei nicht absichtlich unfair. Roland wollte einfach, daß die ungerechte Behandlung aufhörte.
Da erinnerte die Mutter Roland daran, wie Jesus und seine Jünger verfolgt wurden. Und sie hatten auch nichts getan. Sie las Roland aus Jesu Bergpredigt vor, in der die folgende Seligpreisung enthalten ist: „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.“ Matth. 5:10; Roland kannte sie schon auswendig. Er hatte sie in der christlich-wissenschaftlichen Sonntagsschule gelernt. Aber wie konnte Verfolgung einen Segen in sich schließen?
Die Seligpreisung besagt, daß man das Himmelreich erlangt, wenn man sich durch Verfolgung nicht aus der Fassung bringen läßt, d. h., wenn man sich nicht selbst bemitleidet und sich nicht vom Guten abwendet.
„Ich brauche das Himmelreich nicht“, brummte Roland seine Mutter an.
„Natürlich brauchst du es — wir alle brauchen es. Schau mal in Wissenschaft und Gesundheit nach, was Mrs. Eddy im Glossarium über das ‚Himmelreich‘ sagt.“
Roland schlug das Buch auf und las die ersten paar Worte: „Himmelreich. Die Herrschaft der Harmonie in der göttlichen Wissenschaft.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 590;
„Brauchen wir denn nicht Harmonie in unserer Familie? Wir lassen uns durch das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, zersplittern. Weißt du, was Verfolgung wirklich ist? Es ist die Annahme, ein Kind Gottes könne ungerecht oder das Opfer von Ungerechtigkeit sein. Das ist eine Lüge, ebenso wie die Annahme, daß Gott einen mehr als den anderen liebe, eine Lüge ist. Es ist eine Lüge, und einer Lüge wird durch die Wahrheit Einhalt geboten.“
Aber Roland hörte nur halb hin. Ihm war nicht danach zumute, an die Arbeit zu gehen und in seinem Denken Ordnung zu schaffen. Das mußte sein Großvater tun, glaubte er.
Aber Roland mußte schließlich doch sein Denken ändern. Er bekam eine wunde Stelle unter der Ferse, die ihm so wehtat, daß er hinkte. Zuerst dachten seine Eltern, die neuen Stiefel seien Schuld daran, aber es wurde immer schlimmer, ganz gleich, was für Schuhe er trug. Der Vater erinnerte Roland an das, was seine Mutter über die Lüge der Verfolgung gesagt hatte. Der Mensch kann kein Opfer sein, weder physisch noch mental.
Jesus hatte am Kreuz gesagt: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Luk. 23:34. Roland hatte selbst einiges zu vergeben. Dann ging der Großvater auf eine Reise. Das gab Roland Gelegenheit, wirklich über sich selbst, über Gott und den Großvater nachzudenken.
Er sah ein, daß er dem Großvater vergeben mußte, ihm wirklich vergeben mußte. Er fing an etwa so zu beten: Gott ist Liebe, und Ärger ist kein Teil der Liebe. Ich liebe meinen Großvater, und er liebt mich. Ich liebe Betti, und sie liebt mich. Sie möchte mir nicht wehtun. Es gibt nichts, was den Großvater zu dem Gedanken veranlassen könnte, daß er Betti mehr liebe als mich. Wir können nur die liebevollen Gedanken hegen, die Gott uns zu denken gibt.
Das war wirkliche Vergebung, und Roland hatte eine ganz neue Einstellung zum Großvater.
Einige Wochen später machte die Familie eine Reise; sie übernachteten in einem Motel; Roland saß oben auf der Bettkante seines Etagenbetts und ließ die Füße baumeln. „He, Mutti“, rief er, „sieh dir meinen Fuß an!“
Sie sah sich ihn an. Die wunde Stelle war ohne eine Narbe verheilt. Aber zu ihrer Freude hatte Roland ihr noch mehr zu zeigen: „Und schau dir dies an!“ sagte er und schwenkte seine Hand vor ihren Augen. Eine Warze, die er fast ein Jahr lang dort gehabt hatte, war jetzt ebenfalls verschwunden. Was für eine Freude! Was für ein Segen!
Aber der wirkliche Segen lag in dem geistigen Wachstum, das Roland so nötig hatte. Es half ihnen allen. Auch mit dem Großvater ging es besser. Lieben und Vergeben hatte jeden gesegnet.
