Nachdem Paulus seinen freudigen letzten Brief an die Kirche in Korinth geschickt hatte, machte er sich auf den Weg nach Griechenland, wo er sich drei Monate aufhielt (s. Apg. 20:2, 3). Aller Wahrscheinlichkeit nach schrieb Paulus in dieser Zeit, um 56–57 n. Chr., seinen längsten und vielleicht am sorgfältigsten abgefaßten Brief, den Brief an die Römer.
Die Gelehrten sind sich wegen gewisser Unklarheiten in dem uns vorliegenden Text nicht über die ursprüngliche Länge und den Empfänger des Briefes einig. Viele nehmen an, daß der Brief ursprünglich an die Kirche in Rom geschrieben worden war, aber auch an verschiedene andere Kirchen weitergegeben wurde, und daß Paulus entsprechende Grüße hinzufügte. Das 16. Kapitel (in seiner jetzigen Fassung) mag eine Sammlung von Grüßen und Segnungen aus verschiedenen Exemplaren sein — Worte, die die Christen natürlich bewahren wollten.
Ob man nun diese Theorie des Rundbriefes akzeptiert oder nicht, es bestehen kaum Zweifel, daß der Apostel diesen Brief an die Kirche in Rom schrieb. Wenn auch manchmal argumentiert wird, der Brief an die Römer sei hauptsächlich für die Heidenchristen geschrieben worden, so spiegelt er doch die tiefe Besorgnis des Paulus um das Judentum und dessen Verhältnis zum Christentum wider. Während seines Wirkens war ihm oft heftiger Widerstand von seiten der Juden und Judenchristen entgegengebracht worden, die manchmal sogar sein Leben bedrohten. In Damaskus entging er nur mit knapper Mühe dem Tode durch die Hände der Juden. In Antiochien und Jerusalem waren die Juden erbitterte Gegner seiner Meinung, daß die Heidenchristen von dem hebräischen Brauch der Beschneidung befreit sein sollten. Die Kontroverse über das Judentum, die unter den Bekehrten des Paulus in Galatien entfacht worden war, veranlaßte ihn, ihnen einen Brief mit Mahnungen und Zurechtweisungen zu schreiben. Diejenigen in Korinth, die dem Judentum anhingen, pflegten falsche Praktiken, die der Apostel in seinem „strengen Brief“ an die Korinther (2. Kor. 10–13) offen verurteilte.
Doch Paulus hatte nicht wenig Achtung vor der hebräischen Religion. Als Pharisäer erzogen, maß er den hebräischen Schriften große Bedeutung bei und zitierte sie häufig in seinen Briefen. Daß Paulus in den Synagogen predigte (obwohl er oftmals hinausgeworfen wurde), ist ein Beweis für sein ernstes Verlangen, seine Landsleute mit einzuschließen. Auf seine große Erfahrung gestützt, sollte Paulus nun seine gründlichste Einschätzung des Verhältnisses des Judentums zum Christentum darlegen. Trotz der bestehenden Schwierigkeiten gelangte er zu der Überzeugung in Röm. 1:16, daß das wahre Evangelium die Schranken zwischen „jüdisch“ und „nichtjüdisch“ übersteigt — und zwar als die „Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen“.
Nachdem er dies gesagt hat, zeigt Paulus, wie die bestehenden Systeme sichtlich darin versagt haben, den Menschen Erlösung zu bringen. Kapitel 1:18–32 mag in erster Linie gegen das verderbte Verhalten gerichtet sein, das für die Heiden, denen die Ideale des jüdischen Monotheismus nichts bedeuteten, charakteristisch war. Gegenüber solcher Ungerechtigkeit offenbare sich der Zorn Gottes, so warnt er, und er verdammt besonders die Übertreter, die um die Macht Gottes, wie sie sich in Seiner Schöpfung widerspiegelt, wußten. In ihrer Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit hatten die Menschen die Herrlichkeit des unsterblichen Gottes durch das Bild der vergänglichen Menschen und der vergänglichen Kreatur ersetzt.
Zweifellos hätten die Juden diesen Äußerungen Beifall gespendet, aber Paulus wendet sich dann im zweiten Kapitel an jeden, der geneigt ist, über das falsche Verhalten der Menschen zu Gericht zu sitzen. Er macht es klar, daß das göttliche Urteil allumfassend und unparteiisch ist, und erörtert dann eingehend das Judentum (s. 2:12 bis 3:8). Gottes Gericht über die Sünden der Heiden war gewiß; aber lediglich ein Jude zu sein „unter dem Gesetz“, war keine absolute Garantie dafür, daß man die Verhaltensmaßregeln auch befolgte. Und umgekehrt war es vorstellbar, daß Nichtjuden, offiziell außerhalb des Gesetzes Mose, ein rechtschaffenes Leben führten und dadurch „sich selbst ein Gesetz“ wurden, mit dem Gesetz in ihrem Herzen geschrieben. Ja selbst die Beschneidung, jener im Judentum so wichtige Ritus, war ohne die innere Aufrichtigkeit bedeutungslos.
Das Judentum war in der Tat gesegnet, weil ihm das „anvertraut“ war, „was Gott geredet hat“. Doch wie die Heiden, so hatten auch die Juden keine Erlösung gefunden. „Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer“ (3:10). Gehorsam gegenüber dem Gesetz konnte nicht vor der Sünde bewahren; das Gesetz bringt das Wissen um die Sünde.
In 3:21–30 wird jedoch eine universale Erlösung verkündet, die jetzt unabhängig vom Gesetz offenbart wird. Sie ist die „Gerechtigkeit vor Gott“, die den Menschen zuteil wird durch den Glauben an Christus Jesus (unabhängig von den Werken des Gesetzes) und für alle kommen wird, die Glauben haben, seien es Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene.
Es ist an dieser Stelle interessant, zu untersuchen, was Paulus unter den Worten „durch den Glauben gerechtfertigt“ (n. der engl. Bibel) verstand. Das griechische Verb für „rechtfertigen“ ist verwandt mit dem in der Lutherbibel gebrauchten Wort „Gerechtigkeit“. Es kann bedeuten „gerecht machen“, „Gerechtigkeit zeigen“ (einem anderen gegenüber), „freisprechen“ (im juristischen Sinne), „gerecht behandeln“ oder sogar „befreien“. Das griechische Wort für „rechtfertigen“ könnte also auch mit „gerecht machen“ übersetzt werden. Ebenso hat das griechische Substantiv für „Glaube“ verschiedene Bedeutungen wie Treue, Zuversicht, Vertrauen oder aber Annahme. Mitunter geben Übersetzer das Wort „Glaube“ als „ein Überzeugtsein von der Wahrheit“ (von etwas) wieder. Der Leser muß selbst entscheiden, wie er die Stelle „durch den Glauben gerechtfertigt“ verstehen will; eine Möglichkeit wäre: „Wir werden gerecht gemacht durch das Überzeugtsein von der Wahrheit.“ Für Paulus steht fest, daß man die Erlösung nur durch die göttliche Gnade, die einem aufgrund des Glaubens zuteil wird, finden kann.
Die Ergebnisse der neuen Rechtfertigung werden im fünften Kapitel aufgeführt: Friede mit Gott, Zugang durch den Glauben zur göttlichen Gnade, die Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. Sogar Trübsal kann nun als Quelle der Freude angesehen werden, da sie Geduld, Erfahrung (bzw. einen geprüften Charakter), Hoffnung und Liebe zu Gott bewirkt. Paulus spricht über die Universalität der neuen Gerechtigkeit und beschreibt Christus Jesus als das genaue Gegenteil von Adam. Wenn man glaubt, daß durch Adam die Sünde ins Leben gerufen wurde, so kam durch Christus Jesus die völlige Erlösung von der Sünde.
Seine Äußerungen im sechsten und siebenten Kapitel über die Taufe und sein Vergleich der Knechtschaft mit der Ehe erklären das neue christliche Leben, in dem wir wandeln, und die Freiheit vom Gesetz. Dennoch beschreibt Paulus das Gesetz weiterhin als „heilig, recht und gut“ — ja sogar als „geistlich“ (7:12, 14), denn durch das Gesetz wurde die Sünde genau definiert. In diesem Zusammenhang schreibt nun der Apostel seine berühmten Worte über den Wettstreit zwischen seinen Idealen und den Handlungen, zu denen er gegen seinen Willen von der Sünde verführt wurde. Seine Frage: „Wer wird mich erlösen... ?“ (V. 24) wird im achten Kapitel beantwortet. Der Geist, der da lebendig macht in Christus Jesus, verdrängte das Gesetz der Sünde und des Todes. „Fleischlich gesinnt sein“ bedeutet, sich Gott zu widersetzen, doch wohnte nun Gottes Geist in den Christen und bewies, daß sie Gottes Kinder sind.
Im achten Kapitel sind einige der inspirierendsten Aussagen des Paulus enthalten. Ungeachtet der Trübsal sah er eine weit größere „Herrlichkeit“ voraus, „die an uns soll offenbart werden“ (V. 18), und daß denen, die Gott lieben, „alle Dinge zum Besten dienen“ (V. 28). Das Kapitel schließt damit, daß in der Tat die Christen nichts scheiden kann „von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (V. 39).
