Wenn in biblischen Zeiten auf Befehl der Regierenden die Trompete geblasen wurde, durfte man diesen Ruf nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ihm Folge zu leisten hatte in Zeiten der Gefahr Vorrang vor allem anderen und rettete oftmals Menschenleben. Diese Trompetensignale aus alten Zeiten sind symbolisch für den gebieterischen Ruf, den die Wahrheit stündlich und fortwährend an uns richtet. Die Tatsache, daß die Wahrheit uns beständig ruft, deutet an, daß wir als Sterbliche offenbar schlafen, denn es wäre nicht notwendig, jemanden wiederholt zu rufen, der wach und bewußt anwesend ist.
Wie ruft uns die Wahrheit? Obwohl ihre Stimme den materiellen Sinnen unhörbar erscheinen mag, appelliert doch die Wahrheit, die oberste Autorität, in unmißverständlicher Weise an uns und verkündet das Gesetz des allwissenden, allmächtigen, allgegenwärtigen Gottes. Liebe und Gesetz stimmen überein.
Die Wahrheit des Seins, zu der wir durch die Christliche Wissenschaft gerufen werden, erstrahlt in göttlicher Liebe. Sie ist auch unveränderliche, göttliche Wissenschaft. Da es nur einen Gott gibt, existiert in Wirklichkeit nur eine Liebe, und das Gesetz der göttlichen Liebe liegt in ihrer Einmaligkeit. Jede Liebe, die sich von dem Wesen der Liebe Gottes entfernt, ist eine Illusion.
Vergängliche Zuneigungen, die die kostbare Zeit, die Energie und Hingabe der Menschheit beanspruchen, erweisen sich früher oder später als enttäuschend. Die Inhaltlosigkeit der Abgötterei veranlaßt uns, den wahren Zweck des Lebens und die Tatsache, daß es nur eine Liebe gibt, daß Wahrheit ewig ist, zu suchen und zu finden. Die Wahrheit drängt die Menschheit unwiderstehlich, die geistige Reife, die im ersten Gebot enthalten ist, in ihrer tieferen Bedeutung zu erfassen.
Gottes Gesetz ist das Gesetz der Liebe und Wahrheit, es ist ewiglich vollkommen und bewahrt immerdar die Vollkommenheit. Niemand kann sich aus dem Herrschaftsbereich dieses Gesetzes entfernen, noch kann irgend jemand es wirklich verletzen. Ungehorsam zieht seine eigenen Strafen nach sich, die dann dazu dienen, den Gehorsam wiederherzustellen.
Die Menschheit scheint durch ein fiktives sterbliches Gemüt, das der Wahrheit entgegenwirkt, in einen Traumzustand versetzt worden zu sein. Dieses sterbliche Gemüt — das sowohl der Träumer als auch dem Traum ist — beeinflußt uns so sehr, daß wir geneigt sind, uns mit dem sterblichen Gemüt zu identifizieren. Doch Gottes Gesetz ist stets — vor dem Traum, während des Traumes und danach — das oberste Gesetz. Um dies zu veranschaulichen: Wir können uns der Verantwortung für die Lösung eines menschlichen Problems nicht dadurch entziehen, daß wir uns hinlegen und ein Nickerchen machen. Wenn wir aufwachen, muß die Aufgabe immer noch gelöst werden. Wir können ihr nicht durch Schlafen aus dem Wege gehen, sondern müssen sie lösen, indem wir mit Hilfe der Wahrheit erwachen.
Solange wir fortfahren, Gut und Böse miteinander zu verwechseln, ist es uns nicht möglich, der Nacht des Irrtums zu entrinnen. Das sterbliche Gemüt richtet seine Verwüstung ungehindert an, wenn die Gegenwart Gottes nur undeutlich erkannt wird und man annimmt, Er sei der Ursprung des Bösen. Unter dem Einfluß dieser falschen Vorstellung werden Tragödien als Gottes Wille angesehen und Katastrophen als Gottes Taten bezeichnet. Die Wahrheit verneint diesen Irrtum, Gott, das Gute, mit dem Bösen zu verwechseln. Mit Jesajas Worten: „Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen... Darum, wie des Feuers Flamme Stroh verzehrt und Stoppeln vergehen in der Flamme, so wird ihre Wurzel verfaulen und ihre Blüte auffliegen wie Staub.“ Jes. 5:20, 24;
In der Christlichen Wissenschaft wird Gott als ganz und gar gut verstanden, und das Böse wird als die Illusion angesehen, aus der die Wahrheit uns erweckt. Nichts kann die Stimme der Wahrheit daran hindern, selbst von dem gehört und empfunden zu werden, der sich im tiefsten Traum befindet. Dem rückfälligen Sünder erscheint sie wie Donnerhall, der sich über die Intensität der Illusion hinweg bemerkbar macht, während sie von den Kranken und Besorgten als zärtlich und tröstend empfunden wird. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit: „Über dem furchtbaren Getöse des Irrtums, seiner Finsternis und seinem Chaos ertönt noch heute die Stimme der Wahrheit: ‚Adam ... wo bist du? Bewußtsein, wo bist du? Weilst du in der Annahme, daß Gemüt in der Materie sei und daß das Böse Gemüt sei, oder lebst du in dem lebendigen Glauben, daß es nur einen Gott gibt und geben kann, und hältst du Sein Gebot?‘ “ Wissenschaft und Gesundheit, S. 307;
Wann immer wir Gottes Geboten nicht gehorchen (bewußt oder unbewußt — denn schließlich kann Unwissenheit nicht unser Erlöser sein), begeben wir uns in eine Gefahrenzone. Die Wahrheit warnt uns vor der Gefahr genauso deutlich, wie das Nebelhorn bei schlechter Sicht die Schiffe warnt. Die Unbewußten hören die Warnung nicht, noch beachten sie sie. Diejenigen, die halb wach sind, hören sie vielleicht, aber sie folgen ihr nicht. Beide erleiden selbstauferlegte Strafen. Leiden ist eine Begleiterscheinung des Irrtums. Dies sind die unzertrennlichen Zwillinge des Fleisches.
Wir würden wohl aus dem scheinbaren Wohlbefinden im Irrtum oder der Gleichgültigkeit nie erwachen, wenn unser sanftes Träumen nicht auf Gegenströmungen der Wahrheit träfe. Wenn wir vom Materialismus so in Anspruch genommen werden, daß wir darüber vergessen, daß alles eine Illusion ist, dann ist es für uns von großem Nutzen, erbarmungsvoll wachgerüttelt zu werden. Je mehr wir darauf bedacht sind, unseren Schlaf fortzusetzen, um so heftiger müssen wir aufgerüttelt werden. Wenn wir verstehen, daß die Liebe uns durch diesen Vorgang sozusagen vor Unheil bewahrt, wird Gott nicht länger als unfreundlich angesehen werden.
Wir tun gut daran, über unsere harten Erfahrungen nachzudenken. Wenn es auch stimmt, daß ein Christ oder ein Christlicher Wissenschafter heute wie in vergangenen Zeiten auf Widerstand stoßen mag, wäre es doch ein Fehler, alle unsere Schwierigkeiten als Verfolgungen um der Wahrheit willen abzutun. Anstatt um der Wahrheit willen Verfolgung zu erleiden, werden wir vielleicht von der Wahrheit gedrängt, aufzuwachen. Das heißt, daß wir Gottes Gesetz wohl doch noch in irgendeiner Weise verletzen und uns so die selbstauferlegte Strafe zuziehen. Man könnte meinen, die Wahrheit riefe uns etwas mit lauter Stimme zu, weil wir es einfach versäumten, einem sanfteren Ruf zu folgen.
Solch ein Irrtum ist der Irrtum der Selbstgerechtigkeit. Sie ist den Ermahnungen der Wahrheit gegenüber taub und blind. Christus Jesus stellte lediglich eine Tatsache fest, als er sich die die selbstgerechten Priester und Kirchenältesten wandte und, wie im Matthäusevangelium berichtet wird, erklärte: „Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Reich Gottes kommen als ihr.“ Matth. 21:31;
Heute wie damals kennen die Zöllner und Huren oft schon sehr genau ihre eigenen, sehr offensichtlichen Irrtümer, und in der Qual dieser Erniedrigung hat ihr Irrtum keine tiefen Wurzeln. In absehbarer Zeit wird er ausgerottet und durch wohltuenden Selbstrespekt ersetzt werden, den Wahrheit oder Gerechtigkeit verleiht.
Die Selbstgerechtigkeit klammert sich hartnäckig an ihre Einbildung. Sie mißversteht den Ruf der Wahrheit. Die harte Erfahrung, die den selbstgerechten Träumer aufwecken soll, wird als Verfolgung abgetan, an der die Fehler anderer schuld sind.
Der durchdringende Ruf der Wahrheit erreicht auch jemanden, der sich in einem so tiefen Schlaf wie dem Schlaf der Selbstgerechtigkeit befindet. Doch die Gnade, die die tiefsitzenden Irrtümer entwurzelt, hat nichts mit menschlichem Mitgefühl zu tun. Sie ist mehr als menschliches Mitgefühl, sie ist das strahlende Feuer der göttlichen Wissenschaft.
Entmutigung ist ein weiteres Schlafversteck, aus dem wir von der Wahrheit hervorgeholt werden.
Der Schilderung im ersten Buch der Könige zufolge wurde Elia, der entmutigt unter einem Baum eingeschlafen war, wiederholt von der Stimme der Wahrheit aufgerüttelt. Die Wahrheit befahl ihm, sich an ihr zu stärken und auf den Berg Horeb zu gehen. Dort wurde ihm Gott offenbart; zuerst wurde gezeigt, was Gott nicht ist. Die Verneinung, daß Gott in den zerstörerischen Kräften der Materie sei, kam vor der Offenbarung dessen, was Gott ist. Wir lesen: „Ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam eine stille sanfte Stimme.“ 1. Kön. 19:11, 12 [n. der engl. Bibel];
Die Stimme der Wahrheit, die als die Stimme des Gewissens zu uns spricht, wird nur deshalb als „still“ und „sanft“ bezeichnet, weil sie unhörbar ist. Wenn die meisten unserer Handlungen Gehorsam zum Ausdruck bringen, klingt für uns die Stimme der Wahrheit mild, still und sanft. Wenn wir jedoch gewohnheitsgemäß ungehorsam sind, so können wir erwarten, von der Wahrheit sozusagen angebrüllt zu werden.
Der willige Sünder hat es seit langem vermieden, auf die Stimme des Gewissens, den lästigen Eindringling, zu hören. In seinen späteren Stadien (den Leidensstadien) ist er eher bereit, seinen Erlöser zu erkennen.
Jesus beweinte die Leiden der Menschheit. In seinem strikten Gehorsam gegenüber der Wahrheit ließ er nichts ungetan, um den Sterblichen den Weg zu zeigen, der sie aus dem Irrtum, aus dem Leiden, herausführt. Einer seiner letzten Aussprüche vor seiner Kreuzigung waren die an Pilatus gerichteten Worte, die im Johannesevangelium wiedergegeben sind: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ Joh. 18:37; Jesus zeigte uns den Weg der Liebe, der zur Erlösung führt.
Was ist nötig, um einen Sterblichen aufzuwecken? Sturm, Erdbeben, Feuer — gewaltsame Unterbrechungen eines falschen Friedens — rütteln uns auf, veranlassen uns sogar, geistig zu wachsen, doch sie können unser Erwachen nicht vollenden. Allein die Wahrheit vermag das. Mrs. Eddy schreibt: „In der Zeit mag die Wiedergeburt beginnen, aber die Zeit kann sie nicht vollenden, das tut die Ewigkeit; denn Fortschritt ist das Gesetz der Unendlichkeit. Nur durch die schmerzhaften Wehen des sterblichen Gemüts wird die Seele als Sinn stille werden und der Mensch erwachen zu Seinem Bilde.“ Vermischte Schriften, S. 15.
Die Christliche Wissenschaft läßt die Trompetensignale der Wahrheit ertönen. Sie wird auch den letzten Ruf ertönen lassen, der uns vollends erwecken und weitere Rufe unnötig machen wird, denn wir werden geistig wach sein und uns bewußt in Gottes Gegenwart befinden.
