Das Parlament der Bundesrepublik Deutschland hat jüngst das Für und Wider der Verjährungsfrist für Mord erwogen. Es beschloß, ein Gesetz aufzuheben, das besagte, nach Ablauf einer gewissen Zeit könne ein Verbrecher für seine Tat nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Die Debatte im Bundestag wurde vor allem im Hinblick auf NS-Kriegsverbrecher geführt. Aber fragen wir uns nicht manchmal, wie lange jemand überhaupt für begangene Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden sollte? Bleibt eine Schuld für immer bestehen? Wann kann man sagen, daß jemand von seiner Schuld frei ist und keine Strafe mehr abzubüßen braucht?
Wir mögen es für unpraktisch und unerwünscht halten, eine eines Verbrechens verdächtigte Person nach Ablauf einer bestimmten Frist weiter zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen. Zunächst einmal ist auf das Gedächtnis oft kein Verlaß, und die Einzelheiten von Ereignissen, die weit in der Vergangenheit zurückliegen, verblassen meistens so sehr, daß es schwierig sein mag, Gerechtigkeit zu garantieren. Doch unsere Intelligenz muß uns sagen, daß Zeit allein weder jemanden von der Schuld und Verantwortung für begangene Verbrechen reinwaschen noch das Leiden und den Schaden auslöschen kann, den das Opfer des Verbrechens erlitten haben mag. Auf irgendeine Weise muß das ganze traurige Bild von Sünde und ihren Konsequenzen beseitigt werden.
Christus ist der Weg zur vollständigen Vergebung, und tatsächlich gibt es keinen anderen. Nur wenn die wahre Idee Gottes akzeptiert wird und der Mensch als nicht gefallen, sondern als Ausdruck des göttlichen Prinzips erkannt wird, kann der Sünder geläutert sein. Christus Jesus veranschaulichte diese Art und Weise, Sünde und ihre Folgen auszulöschen, als er einen Mann am Teich von Bethesda heilte und dann zu ihm sagte: „Sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Ärgeres widerfahre.“ Joh. 5:14; Nicht auf die Länge der verstrichenen Zeit kommt es an, nicht auf Bedauern oder Reue allein; vielmehr muß das Denken von der Sünde befreit und der Charakter so geläutert werden, daß die ursprüngliche Reinheit des Kindes Gottes sichtbar wird, bevor der sündige Sterbliche als freigesprochen gelten kann und nicht mehr zu leiden braucht.
Reue muß mit Wiedergutmachung und Reform Hand in Hand gehen. Aber darüber hinaus muß die Wahrheit der unabänderlichen Vollkommenheit des Menschen als Ausdruck des göttlichen Prinzips anerkannt werden. Es gibt keine Abkürzung, sich der Vergebung würdig zu erweisen. Mrs. Eddy schreibt: „Die göttliche Liebe weist den Menschen zurecht und regiert ihn. Die Menschen mögen verzeihen, aber dieses göttliche Prinzip allein wandelt den Sünder um.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 6; Da dieser Punkt in der Theologie der Christlichen Wissenschaft so wichtig ist, lautet einer der sechs Glaubenssätze wie folgt: „Wir bekennen Gottes Vergebung der Sünde in der Zerstörung der Sünde und in dem geistigen Verständnis, das das Böse als unwirklich austreibt. Aber die Annahme von Sünde wird so lange bestraft, wie die Annahme währt.“ ebd., S. 497;
Das Böse als unwirklich auszutreiben ist die höchste christliche Demonstration. Es ist viel mehr als menschliches Vergeben und kann allein aus der Bekundung des Christus-Geistes erwachsen, der nur die geistige Wahrheit anerkennt und den göttlichen Geist widerspiegelt. Als Christus Jesus den Mann am Teich von Bethesda heilte, berichtet uns die Bibel, forderte er ihn auf, aufzustehen und zu gehen, „und alsbald ward der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin“ Joh. 5:9;. Da gab es keinen langwierigen Prozeß physischer Erholung oder geistiger Erneuerung. War die schlechte Gesundheit des Krüppels der menschlichen Annahme zufolge auf Sünde zurückzuführen, so wurde seine moralische Mißbildung oder Schwäche doch durch Jesu reines Wissen um die Wahrheit über das tatsächlich unverderbliche und unverdorbene Sein dieses Mannes als Kind Gottes sofort zunichte gemacht. Aber von dem Mann wurde verlangt, daß er sich seine Reinheit erhalte, um gesund zu bleiben.
Die wissenschaftliche Erklärung der Schöpfung ist, daß der Mensch die vollkommene Kundwerdung Gottes, des göttlichen Prinzips, ist. In seinem wirklichen Sein ist der Mensch geistig und sündlos. Er bleibt als Ebenbild Gottes immer vollkommen und harmonisch und kann nichts tun, was mit seinem göttlichen Ursprung unvereinbar wäre. Die Vorstellung von einem boshaften, sündigen Sterblichen besteht nur im fleischlichen Gemüt; und das ist auch der einzige Platz, wo die Vorstellung von einem verletzten Opfer existiert. Die beiden Bilder sind nur im sterblichen Glauben vorhanden und müssen schließlich ausgelöscht werden, damit der ursprüngliche Mensch in seinem vollkommenen, unverfälschten Zustand erkannt werden kann und sowohl Sünde wie Leiden in der mentalen Läuterung vergehen.
Mrs. Eddy zitiert mit innerer Zustimmung einen Vers von Thomas Moore:
Wenn von der Wahrheit Lippe wie ein Sturm
ein mächt'ger Odem all die dunklen Berge
menschlichen Blendwerks Stück für Stück verweht,
beginnt die Herrschaft des Gemüts auf Erden,
von neuem wird der Mensch geboren werden;
im Sonnenschein des neuen Frühlings dieser Welt
wandelt er rein und klar, ein Heil'ger und ein Held. s. Mary Baker Eddy, Vermischte Schriften, S. 51.
Die Christliche Wissenschaft verheißt uns, daß „all die dunklen Berge“ der Sünde und des Leidens in dem Maße verweht und aufgelöst werden, wie die Menschheit dem Verständnis und der Demonstration des Christus, der wahren Idee Gottes, näherkommt. Nicht nur das tragische Bild von Verbrechen und Verbrechern, sondern auch das von verletzten Opfern wird verblassen. Das Böse wird als unwirklich ausgetrieben werden. Die göttliche Gerechtigkeit wird walten, und durch ihr höheres Gesetz wird das Urteil, demzufolge der Übeltäter seine Strafe des Leidens zahlen muß, voll und ganz aufgehoben werden. Gottes eigene „Verjährungsfrist“ tritt mit der völligen Vernichtung des Irrtums in Kraft. Dann ist die Sünde vergeben und für immer ausgelöscht.
