Angenommen, jeder Richter wäre ein Salomo — ungewöhnlich einsichtig und weise — und die Geschworenen könnten die Motive und Handlungen der streitenden Parteien genau erkennen. Wäre das Gericht immer das geeignete Forum, zu entscheiden, wer recht hat?
Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten viele Leute die Entscheidung, vor Gericht zu gehen, als einen bedeutsamen Schritt betrachtet; man mußte sich genau überlegen, ob es sich lohnte, einen Prozeß anzustrengen. Heute scheint es — zumindest in den Vereinigten Staaten — kaum einen Streitfall zu geben, der nicht vor Gericht kommt, damit er entschieden werde. In einigen Fällen könnte man darin einen positiven Trend sehen: Es ist besser, einen Streitfall einer unbefangenen dritten Person zu unterbreiten, die einen rechtlichen Vergleich zustande bringt, als sich fortwährend wegen einer ungelösten Frage zu streiten. Gerichtsurteile haben natürlich auch von Zeit zu Zeit äußerst bedeutsame neue Wege für die menschliche Gesellschaft aufgezeigt. Wenn sich Menschen konträrer Auffassungen gegenüberstehen, können das Gericht und der Gesetzeskodex höchst ausgleichend wirken.
Doch wegen der Überforderung der Gerichte und wegen der Gesetze, die sie geltend machen, sollten wir uns gründlich überlegen, ob wir das Rechtssystem in Anspruch nehmen sollen. Ist es immer das beste, gleich vor Gericht zu gehen? Die Frage ist für uns alle von großer Bedeutung. Ob wir nun selber schon daran gedacht haben, eine Klage anzustrengen oder nicht, wir haben vielleicht schon innerlich unsere Zustimmung zu einer Entwicklung gegeben, die diesen neuen Trend symbolisiert. Er sagt etwas über unsere religiöse Einstellung aus. Er weist nämlich darauf hin, daß wir in zunehmendem Maße bereit sind, sofort unsere eigenen natürlichen Talente zu vergessen und uns an Personen oder Organisationen zu wenden — an Beschwerdestellen, Verbraucherschutzverbände, Behörden und insbesondere Gerichte —, damit sie unsere Fragen beantworten und unsere Probleme lösen.
Jesaja hat eine wichtige Botschaft für eine menschliche Gesellschaft, die in diese Richtung treibt: „Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König; der hilft uns!“ Jes. 33:22; Mit wenigen Worten beschreibt er damit einen sich wiederholenden und inhaltsschweren Gedanken in der Bibel: Gott ist Alles. In der heutigen säkularen Welt scheint eine derartige Feststellung kaum noch praktischen Wert zu haben — ja, sie mag unrealistisch, sogar belanglos, erscheinen. Doch wer ein gewisses Maß an geistiger Einsicht hat, weiß, wie äußerst wertvoll die Wahrheit ist, die jener biblischen Botschaft von Gottes Allheit zugrunde liegt, wenn Streitigkeiten geregelt werden müssen.
Gott ist keine unnahbare Macht, die über ein Reich von Ereignissen herrscht und wohlwollend ihre Autorität ausübt, um Ordnung zu schaffen, wenn Mißhelligkeiten entstanden sind. Er ist göttliches Prinzip, der Ursprung der Rechtschaffenheit. Wenn wir die Vorstellung aufgeben, daß Gott menschliche Charakterzüge besitze, werden wir über diese Begrenzungen hinausblicken und erkennen, was es bedeutet, daß das göttliche Prinzip keine Gegnerschaft kennt und als einzige Macht das Dasein regiert.
Betrachten wir Gott (im menschlichen Sinn) als Person, ist es nur natürlich, daß wir für unsere Probleme eine persönliche Lösung suchen. In der Tat kann eine derartige Auffassung von Gott zu einer Lösung führen, die auf persönlichem Urteil beruht. Wenn wir jedoch Gott als Prinzip sehen, erwarten wir die Antwort nicht von Menschen, sondern von einer göttlichen Quelle. Wir finden dann eine auf Prinzip gegründete Lösung. Eine derartige Lösung ist nicht von persönlichen Ansichten, Vorurteilen oder Meinungen abhängig. Im Gegenteil, sie entspringt geistiger Einsicht — einem reinen Bewußtsein der Wahrheit, der Güte Gottes, Seiner Liebe.
Wenn die göttliche Liebe hinter unseren Handlungen steht, können wir gewiß sein, daß sie alle Beteiligten segnen. Das Resultat ist dann nicht so sehr ein Sieg für den einen und eine Niederlage für den anderen. Es ist vielmehr ein Triumph für beide Parteien und eine Niederlage des Antagonismus, der Feindschaft oder einfach des Glaubens an viele Gemüter. Prinzip ist der Eine, und eine Lösung, die auf dieser Wahrheit beruht, wird von Dauerhaftigkeit, Beständigkeit und feststehendem geistigem Gesetz getragen.
Prinzip ist Substanz. Es ist die Substanz jeder Handlung, die vollständige Basis allen wirklichen Seins. Der Mensch legt Zeugnis ab von Prinzip. Seine wahre Identität ist kein materielles Objekt, das dem Zufall und Wechsel, den Ungewißheiten und Zweifeln der sterblichen Persönlichkeit unterworfen ist. Er drückt die geistige Substanz des Prinzips, die ewige Tätigkeit des göttlichen Seins aus. Wenn wir uns zuerst an Prinzip wenden, es uneingeschränkt und ehrlich als unseren Richter, unseren Gesetzgeber, unseren König anbeten, werden Streitfälle in einen gänzlich neuen Zusammenhang gestellt. Sich widerstreitende Willensäußerungen geben dem Wunsch nach, daß der Wille des Prinzips geschehe. Gottes Wille ist immer richtig; und wenn wir uns Ihm demütig unterordnen, öffnet sich das Tor zu einer Lösung.
Gewiß, eine solche Lösung führt zu einigen sehr konkreten Schritten. Sie mag das Rechtssystem einschließen oder andere formale Wege, um Streitigkeiten zu schlichten. Verlassen Sie sich jedoch nicht darauf! Wenn wir es zulassen, daß der Christus im Bewußtsein die Bedeutung des göttlichen Prinzips als immergegenwärtiger Ursache allen rechten Handelns offenbart, mag sich eine weit einfachere Lösung für den Streitfall finden. Und die Instanzen, die Streitigkeiten beizulegen suchen, wie z. B. die Gerichte, werden von vielen unnötigen und routinemäßigen Prozessen frei werden.
Wenn diejenigen, die einen Zivilprozeß anstreben, sich häufiger dagegen entscheiden, ihre eigene Verantwortung anderen zu übertragen, ihre Verantwortung nämlich, zuerst einmal ihr wahres Verhältnis zum göttlichen Prinzip zu ordnen, werden mehr Streitfälle gelöst, noch ehe die üblichen Wege überhaupt in Betracht gezogen werden. Und der Segen, der aus dieser Art der Konfliktbeilegung erwächst, wird unsere Erkenntnis stärken, daß Gott Alles ist. Mrs. Eddy schreibt über die größeren Fragen der Wirklichkeit: „Es ist das besondere Anliegen der Christlichen Wissenschaft, alle fraglichen Punkte über jeden Zweifel hinaus zu entscheiden, und zwar auf der biblischen Grundlage, daß Gott Alles-in-allem ist...“ Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 181. Auch kleinere alltägliche Fälle können über jeden Zweifel hinaus entschieden werden — und zwar durch unser Verständnis von der Allheit des Prinzips.
[Auf Seite 216 lesen Sie den Bericht eines Mannes,
der sich entschloß, nicht gerichtlich vorzugehen.]
